Wir sind ein Volk von Steuersündern, waren es von Anfang an, werden es immer bleiben. Die Varusschlacht vor 2000 Jahren, mythisch-historisches Gründungsdatum Deutschlands, war ein Steuerstreik. Ihr Held, Hermann der Cherusker, hatte an sich wenig gegen die Römer, war bei ihnen in die Schule gegangen, genoß ihre technischen und zivilisatorischen Errungenschaften. Aber als sie ihm eines Tages einen Steuerbescheid, eine professio, ins Haus schickten, hörte die Gemütlichkeit auf.
Nichts war einem freien Germanen mehr zuwider als ein Steuerbescheid. Daran ändert auch nichts, daß das Wort „Steuer“ direkt aus dem Germanischen kommt; es war das Ursprungswort für die auch heute noch bekannte „Stütze“ und meinte jene freiwillige Ehrenabgabe, die jeder Stammesgenosse üblicherweise je nach Möglichkeit seinem momentanen Fürsten zukommen ließ, damit der ihn repräsentiere und bei Feldzügen anführe. Vom „census“, dem römischen Finanzamt mit seinen Formularen und alljährlichen Steuerschätzungen, keine Spur.
Varus, der römische Statthalter in Germanien und Gegenspieler Hermanns, war zwar erfahrener Militär, doch fühlloser, sturer Verwaltungsfachmann, der sich nicht das geringste dabei dachte, als er eines Tages seine Finanzbeamten, die berüchtigten „censores“, auf die Cherusker und andere Stämme losließ. Er unterschrieb damit sein Todesurteil und das seiner Legionen – und legte den Grundstein für die unausrottbare Steuerallergie der Deutschen, für Steuerflucht, Steuerschlupflöcher, Steuerbetrug, Steueroasen und den Bund der Steuerzahler.
Ich als Steuerzahler“ – das ist hierzulande der am häufigsten vernehmbare Stoßseufzer und Protestschrei; man hört ihn noch öfter als den Ruf „Ich als Verbraucher“. Zorn und Ohnmacht tönen in ihm, Wut auf die Obrigkeit und doch auch heimlicher Respekt vor ihr, die es so schlau und so skrupellos versteht, sich immer neue Steuern auszudenken, direkte und indirekte, Einkommen-, Mehrwert-, Kfz-, Mineralöl-, Wein-, Tabak-, Ertrag-, Gewerbe-, Grund-, Umsatz-, Körperschaft-, Importsteuer.
Längst wird der Staat nicht mehr als Herr über die öffentliche Gewalt, als Ordnungsfaktor und Identitätsstifter wahrgenommen, sondern nur noch als Steuereintreiber, als Zensor und Finanzjongleur. Man kämpft um Steuersenkungen und Steuerfreibeträge wie früher um Provinzen oder Glaubensinhalte. Die Spitzenmeldungen in den Medien kreisen zu achtzig Prozent um Steuerprozesse, um neue Steuerleistungen und wie der Staat versucht, mit ihrer Hilfe der notorischen „Schuldenfalle“ zu entkommen.
Das sogenannte Steuerrecht ist die einzige Wachstumsbranche in diesen schweren Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise. Heere von Anwälten und anderen Beratern sind unterwegs, um uns bei der Anfertigung von immer komplizierter werdenden Steuererklärungen zu helfen, uns vor allzu frechen Steuerzugriffen der Behörden zu schützen und auf das hinzuweisen, was man eventuell „absetzen“ kann.
Ein wilder Wettlauf zwischen privaten Steuerberatern und staatlichen Steuerexperten um die Deutung von Kleingedrucktem ist im Gange. Die einen halten nach „Löchern“ im Text Ausschau, an denen vorbei sich gewisse Beträge vor dem Fiskus in Sicherheit bringen lassen, die anderen sind mit größtem Aufwand an Scharfsinn darum bemüht, exakt diese Löcher zu stopfen und die volle Ernte für den Staat einzufahren. Viele Beobachter sind freilich der Meinung, daß es sich dabei um einen bloßen Wettlauf zwischen Hase und Igel handelt.
Am Ende siegt stets der Igel, nämlich der Staat. Er ist stets „schon da“, zumindest wenn es sich beim Hasen um den „ganz normalen“, im Grunde staatsloyalen und durchschnittlich anständigen Bürger handelt. Anders allerdings liegen die Dinge bei den großen, von vornherein international operierenden Finanzhaien, die die Macht besitzen, Gesetze zu ignorieren, astronomische Summen zwischen den Staaten hin und herzuschieben, einflußreiche Medien zu okkupieren, mit deren Hilfe sie Politiker einschüchtern oder gleich zu bestochenen Komplizen und Erfüllungsgehilfen machen können.
Leute von diesem Karat stellen nicht nur, im Stile der alten Cherusker, den Staat als maßlosen Steuereintreiber in Frage, sondern den Staat überhaupt und mit ihm jeden Begriff von Moral und Gesittung. Der Sinn von Staatlichkeit liegt ja keineswegs primär im Geldeinziehen und Geldausgeben, erfüllt sich vielmehr in der Sicherung von Gesetz und Ordnung, Humanität und gegenseitiger Rücksichtnahme. Wer sich über ihn erhebt und gleichsam selber Staat spielen will, endet letztlich im Sumpf des Raubrittertums und wird unter Umständen, wie einst Störtebecker, einen Kopf kürzer gemacht.
Seine Haut retten kann er dann nur, indem er sein riesiges Schuld- und Schuldenkonto vorzeigt und dem Staat zu verstehen gibt, daß er mit den Raubrittern im selben Boot sitzt. Die gegenwärtige Finanzkrise liefert die Bilder zu dem, was dann folgt: Der nur noch als Steuereintreiber und Schuldenmacher aktive Staat sieht es genauso wie die Raubritter, er saniert sie und damit, wie er glaubt, sich selbst – natürlich auf Kosten von „uns Steuerzahlern“.
Wir Steuerzahler werden den Deal möglicherweise, sogar wahrscheinlich, mit Inflation und Einkommensverlust bzw. Vermögensverlust bezahlen müssen. Eine zweite „Hermannsschlacht“, in welcher Form auch immer, wird es der Steuern wegen nicht geben. Vielleicht aber etwas anderes: eine Volkszählung, wie sie just zur Zeit der ersten Hermannsschlacht im römisch besetzten Palästina stattfand.
Auch dort sollte der census, also die steuerliche Belastbarkeit der neuen „Römer“ festgestellt werden. Alle Familien und Individuen hatten sich zum Zwecke der Zählung an ihrem Sippen-Herkunftsort einzufinden, und so wurde denn Jesus, Sohn der Maria, in Bethlehem geboren, was bekanntlich nicht ohne Folgen blieb. Eine Steuererklärung ganz eigener Art.