Scheint die Musik Luigi Nonos nicht alle Vorurteile zu bestätigen, die sich vor nunmehr 200 Jahren über Neue Musik herausgebildet haben und seither kursieren: zu viele und zu wenige Noten, ein Musikgerippe, alles verkürzt und zurückgenommen, aber auch wieder undurchhörbar verdichtet, der Klang mal hier, mal dort, das Spiel in extremen Lagen, viel zu leise, leiser, am leisesten, bis hin zum Verlöschen, dann wieder erschröcklich dreinfahrende Forteschläge, von Melodei auch nicht eine Spur? Überkomplexe Denkmusik für Spezialisten? Was bereits komponiert worden ist, das muß nicht noch einmal komponiert werden. Die Grenzen des Hörbaren erfahren und erweitern, das Unerhörte hörbar machen, ist der innere Auftrag des bürgerlichen Komponisten. Was aber einer gehört hat, so Adornos Diktum, können alle hören. Nur ist der Hörer auf nichts als auf das Hören selbst gestellt, muß selbst den Weg durch die Komposition sich weisen, weil keine Wegmarken die Richtung oder ein Ziel seines Hörens ihm noch zu weisen vermöchten. „Wanderer, es gibt keinen Weg. Was zählt, ist allein das Gehen.“ („Caminante, no hay caminos. Hay que caminar.“) Die Mauerinschrift, die Luigi Nono um die Mitte der achtziger Jahre an einem Kloster in Toledo gelesen hat, muß ihn zutiefst getroffen haben, denn er hat sie in den letzten drei Jahren seines Lebens zur Titelbasis einer Werktrias gemacht. Alle drei Stücke eint die Vorstellung des „weglosen Wanderns“ (Josef Häusler). „No hay caminos, hay que caminar … Andrej Tarkowskij“ für sieben Orchestergruppen ist dem russischen Filmregisseur Andrej Tarkowskij gewidmet, wahrscheinlich mit Blick auf dessen Film „Nostalgia“, der die Suche „nach etwas, das es vielleicht nicht gibt“, zum Thema hat. Das musikalische Geschehen findet zwischen den Gruppen statt. Wandern hier die Klänge, so müssen in „Hay que caminar sognando“ für zwei Violinen, Nonos letzter vollendeter Komposition, auch die beiden räumlich entfernt voneinander postierten Interpreten selbst am Ende des zweiten Teils von drei Teilen, „suchend, wie man einen Weg sucht“, zu einem neuen Spielort wandern. In „Caminantes … Ayacucho“ für Mezzosopran, Flöte, kleinen und großen Chor, Orgel, drei Orchestergruppen und Live-Elektronik geschieht die Wanderung in Raum und Zeit total und frei. Nono verbindet die Figur des Wanderers mit der peruanischen Stadt Ayacucho, in deren Nähe 1824 die Entscheidungsschlacht gegen den spanischen Vizekönig stattfand, und mit einem Sonett von Giordano Bruno. Aber im Gegensatz zu den Schichtungen und Collagen der Werke aus den Sechzigern geht die Reise ganz nach innen in die Weite, wo Klang ins Unhörbare übergeht und Stille hörbar wird, wo einzig Schweigen Einspruch ausdrückt. Ist solch unerbittliche Arbeit am Material des Hörens und am Hören selbst, wie sie der späte Nono im Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung praktizierte, Ersatzhandlung für erhofften, aber ausbleibenden gesellschaftlichen Fortschritt oder Arbeit daran, Fortschreiten im Fortgehen? Gilt für Nonos Spätwerk Adornos berühmt-berüchtigte Metapher von der wahren Flaschenpost einer auf das absolute Vergessensein angelegten Musik? Den Grundstoff von „No hay caminos“ bildet der Ton G, der im Italienischen „sol“ heißt; „Il sole“ ist die Sonne, das Licht, und — Michael Gielen hat darauf hingewiesen — für den Kommunisten und Schubertianer Nono die Liebe, die Freiheit, die Revolution. Die Einspielung durch das Freiburger Experimentalstudio, Solistenchor Freiburg und WDR Rundfunkchor Köln, das WDR Sinfonieorchester Köln unter der Gesamtleitung von Emilio Pomárico ist kongenial (Kairos 0012512KAI).