Jean-Jacques Rousseau, der sich für einen „Erzieher der Menschheit“ hielt, soll die eigenen Kinder zur Adoption freigegeben haben. Alexander Mitscherlich, dessen Ruhm als Sozialpsychologe und Zeitkritiker in einem Traktat über die „vaterlose Gesellschaft“ (1963) gründet, entsorgte seine sieben Kinder aus drei Ehen in Internaten. Was er öffentlich als Fehlentwicklung arbeitsteilig-kapitalistischer Ökonomie kritisierte, das Verschwinden der Vaterfigur in der häuslichen Erziehung, hielt er privat für ein probates Mittel, sich ungestört von „Familie und Gedöns“ (Gerhard Schröder) zum Praeceptor Germaniae und wirkungskräftigsten „öffentlichen Intellektuellen“ der Bonner Republik aufzuschwingen. Nun muß ein Wegweiser nicht dort hingehen, wohin er zeigt. Um sich aber derart zu exkulpieren, dafür klaffen bei Mitscherlich Anspruch und Wirklichkeit zu oft zu weit auseinander. So hat seine „Gemeinde“ den am 20. September 1908 in München geborenen Großbürgersohn als „Antifaschisten der ersten Stunde“ verklärt. Ganz im Sinne des Meisters, der sich in seiner Autobiographie („Ein Leben für die Psychoanalyse“, 1980) für die Nachwelt entsprechend inszenierte. Tatsächlich war er 1933 aber unerschüttert fixiert auf seine geistigen Zieh- und Ersatzväter Ernst Jünger und Ernst Niekisch. Und Niekisch sah bekanntlich in Adolf Hitler nur deshalb ein „deutsches Verhängnis“, weil er ihn und seine „Bewegung“ verdächtigte, Deutschland „auf den Weg nach Westen“ bringen und gar noch das Weimarer „System“ stabilisieren zu wollen. Als konservativer Revolutionär, nicht als „Antifaschist“ und „Demokrat“ begann mithin Mitscherlichs Reise durchs Dritte Reich. Ohne konkrete Widerstandstat, allein aufgrund der Zugehörigkeit zum 1937 „ausgehobenen“ Niekisch-Kreis, erfolgte dann auch seine Verhaftung. Nach vier Monaten entlassen, blieb Mitscherlich bis 1945 unbehelligt, konnte studieren, promovieren, und, dispensiert vom Wehrdienst, in Heidelberg auch unbelästigt von angelsächsischen Bombern, sich seiner Karriere als Psychiater widmen. Grotesk mutet daher an, wie dieser völlig ungefährdete Arzt auf die ersten US-Jeeps im „Weltdorf“ am Neckar reagierte: „Endlich war die schreckliche Zeit zu Ende. Ich war außer mir vor Freude. (…) In überschäumendem Glück ging ich auf den nächsten amerikanischen Soldaten zu und wollte ihn umarmen.“ Als das Abknuddeln der GIs erledigt war, entfaltete der „Befreite“ eine rauschhafte politisch-publizistische Aktivität. Das brachte ihm den Spitznamen „Seine Turbulenz“ und einen kurzfristigen Posten in der „Provinzialregierung Mittelrhein-Saar“ ein. Daß er 1946 mit „Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit“ die „Inkunabel der psychoanalytischen Renaissance“ auf den Markt brachte, wie seine Bewunderer raunen, kollidiert indes wieder einmal mit den Fakten. Diese im Bann seines neuen Ersatzvaters, des Psychiaters Viktor von Weizsäcker, konzipierten Rezepte gegen die „Krise“ naturwissenschaftlich basierter Medizin, stammen nicht nur aus der Zeit vor 1945 — Freud hätte demnach unter Hitler seine „Renaissance“ erlebt —, sondern transformieren, wie Mitscherlichs erste Ehefrau Melitta Behr, maliziös an Ernst Jünger schrieb, „die Konservative Revolution in die Medizin“. Kein Wunder, daß auch der nebulöse Gesellschaftsentwurf „Freier Sozialismus“ (1946) weiterhin „massen“-feindlicher konservativer Kultur- und Technikkritik Tribut zollte und den Deutschen ein vage mittelständisch-föderales Gemeinwesen empfahl, um den „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu beschreiten und, wie Mitscherlichs Biograph Martin Dehli treffend bemerkt, stark dem politischen Denken des Kreisauer Kreises sowie, könnte man hinzufügen, rechter Entfremdungskritik im Stile Hans Freyers verpflichtet war. Den von Rundfunk- und Printmedien enthusiastisch unterstützten Aufstieg des sich an der Frankfurter Universität neben Adorno und Horkheimer etablierenden Mitscherlich zum westdeutschen „Großdeuterich“ haben diese konservativen Determinanten seiner Kulturkritik aber eher noch befördert als behindert. Im Rückblick ist schier unbegreiflich, welch sagenhafter Erfolg der epigonale Mitscherlich als „Vergangenheitsbewältiger“ zwischen 1955 und 1975 einfahren durfte. „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ und erst recht „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) fanden Millionen Leser, obwohl die Psychologenzunft die Übertragung individualpsychologischer Analysen auf die Kollektivpsyche „der“ Deutschen für einen peinlich ahistorischen Rückfall in die „Völkerpsychologie“ des 19. Jahrhunderts hielt. Wie ideale „Bewältigung“ hätte aussehen sollen, ließen der „Spezialist für analytische Volksbefreiung“ (Hermann Lübbe) und seine Ko-Autorin, die im Nordschleswiger „Volkstumskampf“ gestählte Margarete Nielsen, Mitscherlichs vierte Frau, zudem im dunkeln. Gewiß war nur, daß die „Trauerarbeit“ den Widerstand der Deutschen, ihren „psycho-sozialen Immobilismus“ wegräumen sollte, was für das Psychologenpaar 1967 hieß: „Demokratisierung“ der Hochschulen, antiautoritäre Erziehung, konfessionslose Gemeinschaftsschule, „Liberalisierung“ des Eherechts und des Schwangerschaftsabbruchs. Zwar gilt Mitscherlichs „Sozialpsychologie“ heute als wissenschaftlich diskreditiert, aber die Funktionalität seines simplen Bewältigungskonstrukts leistet der seit vierzig Jahren ungebrochenen kulturellen Hegemonie des Linksliberalismus weiterhin gute Dienste. Foto: Alexander Mitscherlich (1908—1982): Vergangenheitsbewältiger