Einer der publizistischen Wortführer der in den siebziger Jahren in Fahrt gekommenen Anti-AKW-Bewegung war Robert Jungk, der 1977 sein Buch „Der Atomstaat“ vorlegte, wonach der Staat mit Atomkraftwerken (AKW) in totalitäre Konsequenzen hineingerate. Diese Konsequenzen sind bis heute ausgeblieben. Aber Jungks Titel wurde seinerzeit zum geflügelten Wort. Die Gegenthese vertrat Franz Josef Strauß, der 1980 bei der Eröffnung der Weltenergiekonferenz in München prophezeite: „Wir sind keine unbedingten Verfechter der Kernenergie, aber wir brauchen sie, wenn die jetzige politische und wirtschaftliche Ordnung der Bundesrepublik aufrechterhalten werden soll.“ Der Ölschock 1973 ließ vielen wie Strauß das Risiko der Abhängigkeit von einigen Ölstaaten größer erscheinen als das Risiko, das mit der Kernspaltung verbunden war — obwohl es gerade erst im März 1979 im US-Atomkraftwerk bei Harrisburg beinahe zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) gekommen wäre. Einige AKW wurden in Deutschland, wie zunächst jenes in Wyhl, durch Proteste verhindert, 1986 auch die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf und der bereits fast fertiggestellte Schnelle Brüter in Kalkar. Mit dem GAU im AKW Tschernobyl vom April 1986 sank in Westeuropa die Akzeptanz für diese Art von Stromerzeugung auf einen Tiefpunkt. Doch obwohl viele geplante AKW in Deutschland nicht gebaut wurden, gingen die Lichter nicht wie von Strauß befürchtet aus; die politische Ordnung wurde nicht instabil. Vielmehr waren die von der Politik zugrunde gelegten Prognosen von einer Verdoppelung des Strombedarfs alle zehn Jahre so sehr Wirtschaftswachstumswunschdenken, daß sich etliche der geplanten Anlagen als überflüssig erwiesen. Der Strombedarf in Deutschland ist seit den neunziger Jahren angestiegen und weist für 2007 einen Spitzenwert von plus 6,6 Prozent gegenüber dem Vorjahr aus. Daraus aber abzuleiten, wir bräuchten längere Laufzeiten für AKW und neue Anlagen dazu, wäre ein Kurzschluß. Strom kann auch ohne Atomkraft erzeugt werden. Wachstumsraten können auch wieder abflachen, wie momentan die Daten für die Volkswirtschaft Deutschlands vorhersagen. Man wird auf absehbare Zeit nicht auch noch auf Kohle- und Gaskraftwerke verzichten können, aber auch ohne AKW haben wir noch genug Energie. Der Anteil an AKW-Strom betrug in Deutschland 2007 netto 26,3 Prozent. Dieser Wert soll gemäß Vereinbarungen bis 2022 auf 0 Prozent gesenkt werden. Der Einsatz alternativer Energien, deren Anteil an der Netto-Stromerzeugung 2007 gut 14 Prozent betrug, wird zunehmen müssen. Auch sind intelligente Techniken gefragt, so daß die Spitzenwerte des Strombedarfs abflachen. Die Wasch- oder Spülmaschine kann laufen, wenn Wind oder Sonne gerade viel Strom erzeugen, oder in den Tageszeiten, in denen sonst wenig Strom nachgefragt wird. Hier ist technischer Fortschritt möglich. Die Geothermienutzung wird in ein oder zwei Jahrzehnten auch einen nennenswerten Beitrag zur Stromerzeugung leisten können. Forschungsgelder sind hier besser investiert als in die Nukleartechnik. Angesichts der Entbehrlichkeit der Atomenergie für die Stromerzeugung ist nicht einzusehen, warum die mit ihr verbundenen Risiken eingegangen werden sollen. Dabei geht es nicht nur um die Risiken eines GAU, dessen Eintrittswahrscheinlichkeit so klein ist wie das Ausmaß eines möglichen Schadens groß. Risiken sind schon mit dem Normalbetrieb verbunden. Für Kinder, die wenige Kilometer von Atomanlagen entfernt leben, ist die statistische Wahrscheinlichkeit signifikant erhöht, an Krebs zu erkranken. Der Kausalitätsnachweis ist noch nicht erbracht, aber es ist wahrscheinlich, daß gerade Embryos und Föten auf gering erhöhte radioaktive Strahlung empfindlich reagieren. Bis zum Beweis des Gegenteils sollte verantwortliche Vorsicht walten. Riskant ist der Normalbetrieb von AKW auch aufgrund der Terrorgefahr. Mit Atomkraftwerken setzt sich Deutschland selbst atomare Minen ins Land. Wie soll ein solches Land im Ernstfall verteidigt werden? Mit dem Abschuß eines voll besetzten Jumbojets durch die Luftwaffe? Eine abenteuerliche Vorstellung. Angesichts der Entbehrlichkeit der Atomenergie für die Stromerzeugung ist nicht einzusehen, warum die mit ihr verbundenen Risiken eingegangen werden sollen. Dabei geht es nicht nur um die Gefahr eines GAU — riskant ist schon der Normalbetrieb. Dann kommt Uran aus nur wenigen Ländern: zur Hälfte aus Kanada und Australien, zur anderen Hälfte aus Krisenregionen wie Kasachstan, Rußland, Niger, Namibia und Usbekistan. Das macht die Uranpreise auf längere Sicht schwer kalkulierbar, selbst wenn sie noch hundert Jahre reichen. Denn was nützten Uranvorräte, die einem vorenthalten würden, womit dann die Preise explodierten? Realitätsnahe Szenarien gehen davon aus, daß uranhaltige Erze in 70 Jahren aufgrund ihres geringeren Urangehalts für ihre Gewinnung und Anreicherung soviel Energieeinsatz benötigten, daß man gleich Gas verfeuern kann und damit dann effizienter arbeitete. Aber selbst wenn alle Szenarien Lügen gestraft würden und Uran 100 Jahre lang in Deutschland zur Energiegewinnung rentabel eingesetzt werden könnte, bleibt offen, wo der radioaktive Müll sicher endgelagert werden soll. Im niedersächsischen Salz, wie der Landesumweltminister Hans-Heinrich Sander (FDP) meint? Daß der Salzstock Asse leck geschlagen ist, hindert Sander nicht, auf diese Lösung in Gorleben zu setzen, obwohl auch hier geologische Schwächen bekannt sind. Daß Asse einsturzgefährdet ist, Radioaktivität aus rostigen Atommüll-Fässern entweicht, hat Sander fünf Jahre lang verschwiegen. Hinzu kommt die Behördenschlampigkeit als unkalkulierbares Risiko. So teilte Greenpeace am 7. November mit, das niedersächsische Umweltministerium habe in seinem Statusbericht vom September dieses Jahres eingestanden, daß im Jahr 2006 Hinweise auf die Einleitung kontaminierter Lauge in tiefere Bereiche des Asse-Bergwerks „überlesen“ wurden. Laut Bericht wären zudem mehr Mitarbeiter für eine bessere Atomaufsicht nötig gewesen. Ferner kann ein Umweltminister auch wissenschaftlich schlecht beraten sein und daher Fehler machen. Der mittlerweile emeritierte Professor Klaus Kühn, 1965 Gründungsmitglied und später Direktor des Instituts für Tiefenlagerung des Asse-Betreibers, der Gesellschaft für Strahlen- und Umweltforschung (GSF), hatte 1967 einen Wassereinbruch in der Asse „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen“. Dennoch kam es 1988 zu Wassereinbrüchen in das Atommüllager. Professoren sind nicht immer neutral und gegenüber den Verlockungen der finanzkräftigen Atomwirtschaft immun, sondern immer wieder auch — um mit einem aktuellen Buchtitel zu sprechen — als „Professor Untat“ unterwegs. Dieses Problem ist heute virulenter denn je, weil Hochschulforschung immer mehr über Drittmittelprojekte finanziert wird und es Professoren gibt, die als Nebenjobber und Lobbyisten ihre Unabhängigkeit preisgeben. Fazit: Atomkraftwerke sind nichts für allzu menschliche Menschen. Volker Kempf, 40, freier wissenschaftlicher Publizist, studierte Soziologie, Philosophie sowie Soziale Arbeit und Erziehung in Duisburg, Essen und Wien. Buchveröffentlichungen über Günther Anders, Herbert Gruhl, Christa Meves. Vorsitzender der Herbert-Gruhl-Gesellschaft und Schriftleiter des Jahrbuchs „Naturkonservativ“.