Als Sachsens Ministerpräsident Stanislaw Tillich (CDU) Ende September anläßlich der Eröffnung der Ringvorlesung „Wie schmeckte die DDR?“ vor einer Verharmlosung der DDR-Diktatur warnte, wußte er noch nicht, daß ihm der schlechte Geschmack der sozialistischen Diktatur wenige Wochen später in Form der eigenen Biographie selbst zu schaffen machen würde. Vielleicht ist dem christdemokratischen Spitzenpolitiker tatsächlich erst durch die jüngsten Enthüllungen des SPD-Landtagsabgeordneten Karl Nolle bewußt geworden, wie sehr er sich seine persönliche Biographie seit 1990 zurechtgebogen hat. Tillichs Leben verlief bis zur Revolution 1989 erheblich anders, als bis vor kurzem in der offiziellen Biographie nachzulesen war. Anders auch als die Lebensläufe der Mehrheit der DDR-Bürger. Denn die haben weder an der innerdeutschen Grenze als Mitglieder der DDR-Grenztruppen dem Regime gedient, noch haben sie in einer der SED-hörigen Blockparteien eine Blitzkarriere gemacht. Sie hatten auch keine berufliche Funktion inne, bei der sie offizielle Kontakte mit der Staatssicherheit hatten. Tillich macht sich angreifbar, wenn er behauptet, er habe sich gegen einen Grenzdienst nicht wehren können. Viele haben das bei der Musterung getan. Der junge Sorbe zog es dagegen vor, gegebenenfalls die Flucht seiner Landsleute in den Westen mit der Waffe in der Hand zu verhindern. Fragwürdig ist auch seine Aussage, in der CDU eine Nische vor der SED gesucht zu haben. Denn die Blitzkarriere, die er bei den Christdemokraten hinlegte und die nur durch die Revolution (kurzzeitig) unterbrochen wurde, wäre ihm in der Einheitspartei verwehrt geblieben. Absolut vertrauenswürdiger Funktionär Die hatte einfach zu viele willfährige Kader, als daß einer wie Tillich binnen zwei Jahren zum Vize-Dezernenten für Handel und Versorgung im Kreis Kamenz hätte aufsteigen können. Schließlich war Tillich erst im März 1987 der CDU beigetreten. Hier wurde er offenbar sofort als Leitungskader aufgebaut. Bereits im Januar 1988 sei der Verwaltungsangestellte als „Stellvertreter des Vorsitzenden für Handel und Versorgung“, so die korrekte Bezeichnung im DDR-Deutsch, vorbereitet worden, haben Recherchen von „Radio Sachsen“ ergeben. Im Mai 1989 habe er dann diesen Posten übernommen, der der CDU entsprechend der Regelungen in der Nationalen Front zustand. Daß der heute 49 Jahre alte Tillich für das DDR-Regime ein absolut vertrauenswürdiger Funktionär war, zeigt die Tatsache, daß er zur sogenannten B-Struktur gehörte, die im Krisenfall an die Stelle der normalen Machtstrukturen treten sollte. Diese sorgte auch dafür, daß heutige Parteifreunde Tillichs wie der Dresdner Bundestagsabgeordnete und ehemalige DDR-Bürgerrechtler Arnold Vaatz im Krisenfall in Sonderlager für „unsichere Elemente“ eingewiesen worden wären. Vaatz gehörte Anfang der neunziger Jahre zu jenen, die eine harte Auseinandersetzung mit den Blockflöten in der Ost-CDU forderten. Letztlich unterlagen die Aufklärer, weil die gewendeten Christdemokraten in der Mehrheit waren und dem Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf der Aufbau des Landes mehr am Herzen lag als eine Geschichtsaufarbeitung. Sogar ehemalige Stasi-Leute fanden so neue Jobs als Minister-Leibwächter oder in der neu aufgebauten Polizei. Was damals unter den Tisch gekehrt wurde, bereitet nun der aus Niedersachsen stammende Landtagsabgeordnete Nolle genüßlich auf. Der Sozialdemokrat und Druckereibesitzer, der bereits zum Sturz von Biedenkopf und dessen Nachfolger Georg Milbradt (beide CDU) beigetragen hat, ist jetzt in einer Broschüre mit dem Titel „Sonate für Blockflöten und Schalmeien“ der Karriere mehrerer CDU-Blockflöten nachgegangen. Als ruchbar wurde, daß Tillichs Biographie nur ein Kapitel in dem Buch ist, gingen gleich mehrere sächsische Staatsminister zur Vorwärtsverteidigung über. Innenminister Albrecht Buttolo räumte ein, fünf Jahre Mitglied der Kampfgruppen der Arbeiterklasse, einer Art Volksmiliz, gewesen zu sein. Auch Sozialministerin Christine Claus, Umweltminister Frank Kupfer und CDU-Fraktionschef Steffen Flath versuchten inzwischen ihren seinerzeitigen Eintritt in eine Partei zu rechtfertigen, die den Machtapparat der SED stützte. Wohl stellvertretend für seine Kabinettsmitglieder rechtfertigt Tillich seine einstige Nähe zum SED-Unrechtsstaat so: Er sei „ein pragmatisch orientierter Mensch“ gewesen, „der vor Ort, in der Heimat etwas verändern wollte und dabei nicht ideologisch geprägt war“. Vor zwei Monaten hörte sich das noch anders an. Da warnte Tillich vor der „Gefahr der Verklärung“ und forderte eine breite Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit: „Subjektive Erinnerung dominiert die objektive Geschichtsschreibung.“ Nolle hat ihn nun beim Wort genommen.