Die Lager- und Zuchthausliteratur, die von dem Repressionsapparat der totalitären Regime berichtet, ist eine eigene Gattung geworden. Von dem Bericht des Julius Fucik „Reportage unter dem Strang geschrieben“ über Primo Levis „Ist das ein Mensch“ bis zu dem „Roman eines Schicksallosen“ von Imre Kertesz ist eine ganze Bücherwand entstanden, die dem Lager- und Zuchthausleben gewidmet ist – es ist die Gattung „Knastliteratur“ entstanden. Ihre Sternstunde erlebte sie zu früher Stunde: mit „Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch“ des Alexander Solschenizyn. Damit begann, mit Nikita Chruschtschows Segen, die psychologische Demontage der Terrorregime des zwanzigsten Jahrhunderts. Es ist natürlich völlig unverhältnismäßig, in einer Reihe mit diesen illustren Namen die Autorin eines kürzlich im Herbig Verlag erschienenen Buches zu nennen: Ursula Rumin. Sie schrieb mit „Im Frauen-Gulag am Eismeer“ einen sachlichen, nüchternen Bericht über ihre Verhaftung im Jahre 1952, ihre Verhöre in Karlshorst und Lichtenberg, die anschließende Verurteilung zu 15 Jahren Zwangsarbeit und ihre Deportation über Moskau – sie saß in der berüchtigten Anstalt „Butyrka“ – nach Workuta, wo im äußersten Norden der Sowjetunion in einem umfangreichen Lagersystem unzählige Opfer des kommunistischen Terrors sozusagen ein „hybernierendes Dasein“ führten. Ursula Rumin arbeitete als Drehbuchautorin für die Ostberliner DEFA und sie beschreibt den tragischen Wendepunkt ihres Lebens quasi als blauäugiges Opfer, das unter verlogenem Vorwand nach Ostberlin gelockt worden sei, um dort verhaftet, abgeurteilt und deportiert zu werden. Ganz nebenbei, in jeweils kurzen, hingeworfenen Sätzen, erwähnt sie, daß sie erst bei den Briten, dann bei den Kommunisten „unterschrieben“ habe. Nun, das Dasein jedes Doppelagenten gleicht immer einem Tanz auf des Messers Schneide. Meistens endet es in der Haft des einen oder des anderen, wenn nicht gleich mit dem Tod. Das mindert natürlich nicht den dokumentarischen Wert ihres Buches: besonders die Darstellung des Alltags der verschiedenen Arbeitskolonnen, in denen sie zwangsweise tätig war, ist ergreifend, insofern sie bei der sachlichen Schilderung der sich qualvoll ausdehnenden Zeit bleibt. Beginnt sie, „Seelisches“ zu beschwören, den Kampf mit den ständigen Fragezeichen, die die Zukunft eines jeden Häftlings auf den Himmel schreibt, rutscht sie in das unabwendbar Kitschige, dem jeder Dilettant anheimfällt, wenn er versucht, „Literatur“ zu schreiben. Aber man hat während der Lektüre immer wieder das Gefühl, man höre in einem fiktiven Gerichtssaal die Aussage eines authentischen Zeugen, der über ein abgeschlossenes Kapitel der Zeitgeschichte aussagt. Die Berichte dieser Zeitzeugin, gleichermaßen wie die unzähligen anderen, sind für uns, die Generation, die das Grauen im kommunistischen Gulag teilweise persönlich durchleiden mußte, von einem Wert, der das eigentlich Literarische transzendiert. „Im Frauen-Gulag am Eismeer“ ist ein kleiner Ziegelstein in einem Gebäude der Erinnerung, das – gemessen am dargestellten menschlichen Leiden und an den Dimensionen des Sterbens – genauso bedeutend ist, wie alle anderen Denkmäler und Mahnmale, die dem Leiden und Sterben im vergangenen Jahrhundert gewidmet sind. Ursula Rumin: Im Frauen-Gulag am Eismeer. Herbig Verlag, München 2004, 320 Seiten, gebunden, Abbildungen, 22,90 Euro