Nur wenigen Zeithistorikern ist es vergönnt, ganze gewachsene Quellenbestände der jüngsten Vergangenheit im Original auszuwerten. Die überwiegende Zahl der professionellen Historiker verschiedener Sparten, Politikwissenschaftler und anderer Geschichtsfreunde ist bei der Interpretation gegenwartsnaher Zeitläufte zunächst einmal auf verläßliche Ariadnefäden angewiesen, etwa in Gestalt von Akteneditionen. Damit vertrauen sie sich allerdings auf Gedeih und Verderb deren Herausgebern an, die wiederum nicht selten in ihrer entsagungsvollen Arbeit der Auswahl kumulierende Schwierigkeiten zu bewältigen hatten, allein in Anbetracht des massenweisen Anfalls von amtlichem Schriftgut jeglicher Art, strenger Verschlußsachen-Bestimmungen, anderer verschlungener bürokratischer Prozeduren – Stichwort Mitzeichnung -, aber auch unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich jedenfalls aus der Sicht mancher Regierenden keineswegs alle Vorgänge für Aktennotizen eignen. Angesichts der Unübersichtlichkeit des ehemals sowjetischen, jetzt russischen Archivwesens, zu schweigen von hohen ideologischen Hürden und gravierenden politischen Bedenken, auch offenbar wechselnden Grundsätzen der Archivwürdigkeit ist die Herausgabe der drei vorliegenden Bände durchaus ein Wunder zu nennen. „Nun kommt es bei uns recht häufig vor, daß sehr wichtige Dokumente (…) verschwinden, je nachdem, von wem und wann sie geschrieben oder gedruckt worden sind“, schrieb zornig der Marschall der Sowjetunion Schukow in der deutschen Ausgabe seiner Erinnerungen. Damit ist freilich die dankenswerte Reihe, eine Art Einstiegsdroge, nicht der Kritik entrückt. Einiges davon nehmen die Herausgeber im Band I in ihrem Geleitwort, dem Vorwort, den Bemerkungen zur Quellen-„Auswahl“ und zum Aufbau der Edition vorweg. So betont der deutsche Herausgeber, daß „die wissenschaftliche Erschließung der Quellen zur sowjetischen Deutschlandpolitik während und nach dem Zweiten Weltkrieg noch immer am Anfang“ stehe und „ein bedeutender Teil deutschlandpolitisch relevanter Quellen (…) trotz jahrelanger Anstrengungen von russischer und deutscher Seite noch immer unzugänglich“ bleibe. Die beiden Bearbeiter legen auch dar, wie die Auswahl für den Dokumenten- und den Anmerkungs- sowie den Einleitungsteil im gegenseitigen Einvernehmen vonstatten ging: „Das Vorschlagsrecht für alle deklassifizierten Dokumente lag auf der deutschen Seite“, während die russische Seite das Vorschlagsrecht für noch klassifizierte Papiere hatte. Unklar bleibt dabei, nach welchen Grundsätzen die Herabstufung erfolgte. In dieser Praxis klingt das brüske „Gaudeat obtentis“ an – Er freue sich an dem, was er erhalten hat -, die Formel, mit der im ausgehenden 19. Jahrhundert die wissenschaftliche Nutzung der vatikanischen Sammlungen vom Majordomus des Papstes nach Gutdünken beschränkt wurde. Das Problem der Periodisierung dieser Edition wird von den Herausgebern weitgehend ausgeklammert. In ihren einleitenden Bemerkungen zum Band I verschwenden sie nur wenige Worte auf die komplizierte und widerspruchsvolle Vorgeschichte des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion und begnügen sich mit unzureichenden Literaturhinweisen. Damit gehen sie, angelehnt an die vorherrschende Lehre vom unprovozierten deutschen Angriff, einer gleichwohl weiter schwelenden Kontroverse aus dem Wege, nähren aber zugleich den dringenden Wunsch nach ergänzenden Bänden dieser Reihe, die aus den Moskauer Akten die deutsch-sowjetischen Beziehungen vom Ende des Ersten bis in den Zweiten Weltkrieg aufhellen und damit vielen Spekulationen den Boden entziehen könnten. Bis diese Bände vorliegen, wird die Wiedergabe der Unterredung zwischen dem deutschen Botschafter Graf von der Schulenburg und dem Volkskommissar für Auswärtiges Molotow am 22. Juni 1941 nach dem Beginn der Feindseligkeiten jedoch als groteskes Beispiel für ein Gespräch zwischen Tauben und Stummen gelten, das die Intelligenz beider mißachtet. Es ist bei anspruchsvollen Editionen auch nicht alltäglich, daß die Herausgeber vorsorglich die Erwartungen der Benutzer dämpfen, wenn sie – wie hier geschehen – den eigentlich geringen Stellenwert des sowjetischen Außenministeriums in seinen wechselnden Bezeichnungen im stalinistischen Machtgefüge verdeutlichen. Berater mit beachtlichem Sachverstand und bemerkenswerter Auslandserfahrung wie Litwinow und Majskij, fleißige Gremien mit beeindruckender Kenntnis ökonomischer und finanzpolitischer Sachverhalte, beauftragt mit Überlegungen für die politischen Absichten und Ziele nach dem Kriege, gab es genug. Aber sie, und erst recht Molotow hatten wenig Einfluß und keinerlei eigene Gestaltungskraft. Alles hing letztlich von den einsamen Entscheidungen der „Instanz“ ab, oder des „chosjain“, des Hausherrn, des „woschdj“ – soviel wie Führer -, gemeint immer Stalin, in furchtsamer Hinnahme seiner unumschränkten Gewalt. Selbst heute, im Zeitalter besonders effektiver Kommunikationsmittel, dürfte es wohl keinen Außenminister geben, der von einer wie immer beschaffenen „Instanz“ so an der kurzen Leine mit Würgehalsband geführt würde, wie es Molotow geschah. Allerdings entwickelte sich unter der vom Mißtrauen gegen alles und jeden geprägten Selbstherrschaft Stalins eine seltsame Polykratie nach dem von ihm meisterhaft befolgten Grundsatz „Teile und herrsche“. Nach dem 8. Mai 1945 hatten die Funktionäre des Außenministeriums erst recht wenig zu sagen, selbst wenn sie in Berlin an Ort und Stelle waren und lesenswerte Berichte schrieben. Nun galt der Wille der Sowjetischen Militäradministration (SMAD), dazu noch anderer Institutionen, denen die Ausplünderung der sowjetischen Besatzungszone oblag, auch die rücksichtslose innere Stabilisierung dieses Territoriums, um es als rauhes Experimentierfeld für die von Anfang an beabsichtigte konsequente gesellschaftspolitische Umwälzung nutzen zu können. Dabei war neben der zwangsweisen Vereinigung von KPD und SPD zur SED die Entmachtung der „Junker und Großgrundbesitzer“ durch die sogenannte „Bodenreform“ ein Ziel, was in den Bänden II und III vielfach dokumentiert ist – bis hin zu der triumphierenden Feststellung Semjonows am 2. September 1947, daß „die Junker und Gutsbesitzer (…) in der sowjetischen Zone als Klasse liquidiert“ seien. Im Zusammenhang mit der einvernehmlichen Absicht der Ausschaltung des Deutschen Reiches als Machtfaktor auf lange Sicht, ein dominierendes Thema in Band I, gewannen in der Anti-Hitler-Koalition frühzeitig auch Überlegungen über eine künftige Weltordnung Raum, bei deren Organisation im Vordergrund stand, jedenfalls die wegen ihrer Machtlosigkeit gescheiterte Fehlkonstruktion „Völkerbund“ zu überwinden. Wenn jedoch in letzter Zeit verschiedentlich das Argument zu hören war, die „Verhinderung von Völkermord, das entschiedene ‚Nie wieder'“ gehöre zu den „Existenzgründen“ der Vereinten Nationen, die „einst in Reaktion auf den Genozid an den Juden geschaffen“ worden seien, so findet sich wenigstens in der vorliegenden Edition kein Beleg dafür. Die hierzu bis Anfang 1945 geäußerten Gedanken vor allem Roosevelts kreisten um die Schaffung einer internationalen Sicherheitsorganisation, eine Art Weltregierung, bei der den vier Großmächten – USA, Großbritannien, China, Sowjetunion – das Gewaltmonopol zur Verhinderung von Kriegen und zur Sicherung des Friedens zufallen sollte: Es ist ja ein wenig anders gekommen. François Furet („Das Ende der Illusion“) hat 1995 die Ziele und die Verwirklichung der sowjetischen Nachkriegspolitik Deutschland gegenüber so einprägsam formuliert, als habe er selbst Studien im Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation getrieben. In allen Diskussionen der Alliierten über die Nachkriegszeit seien die Sowjets die hartnäckigsten Befürworter einer endgültigen Zerschlagung der treibenden Kräfte der deutschen Macht gewesen, schreibt er: „Sie haben größere Gebiete als Pfand genommen“ als die Franzosen nach 1918. Sie zeigten sich entschlossen, „eine deutliche Verlegung der polnischen Grenzen nach Westen durchzusetzen“, um das 1939 im Hitler-Stalin-Pakt Errungene behalten zu können. Selbst Churchill, so Furet weiter, habe ihre exorbitanten Forderungen in bezug auf Reparationszahlungen für absurd erklärt. Und in den Bestimmungen von Jalta und Potsdam bezüglich der Treuhandschaft über das besiegte Deutschland und dessen territoriale Aufteilung habe die Sowjetunion durchweg eine führende Rolle gespielt. Furet erinnert daran, daß der Alliierte Kontrollrat „nur einige Monate lang wirklich zusammenarbeitete“ und die Sowjetunion zwischen 1946 und 1948 „eine regelrechte Umsiedelung der deutschen industriellen Infrastrukturen innerhalb ihrer Zone“ durchgeführt habe. Er hebt auch ein besonderes Kennzeichen der „deutschen Ostzone“ hervor, den „antifaschistischen Gedanken (…), wie er von den sowjetischen Militärbehörden gehandhabt“ wurde unter Nutzung der deutschen Kommunisten, „deren Anführer im Gefolge der Roten Armee aus Moskau kamen“, von der Siegermacht „zum Symbol des Widerstandes auserwählt“. Die „Entnazifizierung nach russischem Modell“ habe weniger der Bestrafung und dem Ausschluß der Schuldigen gedient „als der Einbindung der deutschen Politik in den engen Kreis des Sowjetsystems, dessen Kontrolle sie untersteht“. Für alle diese Feststellungen sowie zur Vor- und der frühen Geschichte des Kalten Krieges liefern die drei Bände viele, wenn auch nicht immer überraschende Belege, bei denen freilich stets die von den Herausgebern benannten Grenzen der Edition zu berücksichtigen sind. Auffällig ist indes, wie die deutschen Genossen etwa in den Aufzeichnungen Semjonows, des Politischen Beraters in der SMAD, späteren Botschafters in Bonn, zuvor auch in der „DDR“, eigentlich nur als Statisten erscheinen. Er beurteilt sie in deren Fähigkeiten herablassend bis skeptisch und wird sie sich mit dieser Einstellung kaum zu Freunden gemacht haben. Die Benutzung der Bände wird durch Register und eine faktengesättigte Kommentierung erleichtert. Bei den Personenregistern wünschte man sich jedoch vor allem bei den sowjetischen Funktionären über den Bearbeitungszeitraum hinausgehende Angaben. Denn in nicht wenigen Fällen führte sie die weitere Karriere zum Beispiel an die sowjetischen Botschaften in Bonn oder Berlin (Ost) oder in andere Positionen der poststalinistischen Deutschlandpolitik. Auch bei deutschen Politikern wie Walther Schreiber, Nachfolger Ernst Reuters als Regierender Bürgermeister von Berlin, wären Angaben über ihre späteren Funktionen nützlich gewesen. Andere Probleme wirft die Rückübersetzung von Namen aus der russischen in die deutsche Sprache auf. So hieß der in Band III erwähnte Philosophie-Professor in Rostock weder Brecker noch Brekker, sondern Walter Bröcker. Nach der Denunziation als Heidegger-Schüler verließ er Rostock 1948 und lehrte fortan in Kiel. Die Anmerkung 394 in Band II könnte aufschlußreich ergänzt werden. Das ungewöhnlich offene und gegenüber der Politik Stalins und seiner denkbaren Nachfolger sehr kritische, zu Lebzeiten Litwinows nicht veröffentlichte Interview vom 18. Juni 1946 mit dem amerikanischen Journalisten Richard Hottelet wurde im Jahre 1952 in der Zeitschrift Der Monat (Heft 45, Seiten 284-291) publiziert – ein aufsehenerregender propagandistischer Schachzug im Kalten Krieg. Bedauerlicherweise fehlt auf Seite 560 (Band II) ein Hinweis auf Joachim Hoffmanns grundlegende Geschichte der Wlassow-Armee, 1986 in zweiter Auflage erschienen, seit 1990 auch in russischer Sprache (Istorija Vlasovskoj Armii. Perevod s nemeckogo, Paris 1990). So hätte auch die Nennung weiterer Veröffentlichungen Hoffmanns die Kommentierung einiger Dokumente durchaus bereichert. Jochen P. Laufer, Georgij P. Kynin (Bearb. und Hrsg.), unter Mitarbeit von Viktor Knoll: Die UdSSR und die deutsche Frage 1941-1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Band 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945. Band 2: 9. Mai 1945 bis 3. Oktober 1946. Band 3: 6. Oktober 1946 bis 15. Juni 1948. Duncker und Humblot, Berlin 2004, Bd.1: CXVI, 715 Seiten; Bd.2: CXLVIII, 805 Seiten; Bd. 3: CXVI, 780 Seiten, gebunden, 88 Euro je Band. Dr. Georg Meyer arbeitete als Historiker beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA). Foto: Sowjetische Delegation während der Potsdamer Konferenz, Juli 1945: Exorbitanten Forderungen