Noch am Morgen des 19. April hatten viele Politiker in Berlin ein gutes Gefühl. Mit jedem Wahlgang, so verkündeten deutsche Korrespondenten aus Rom in Radio und Fernsehen, verschlechterten sich die Chancen des als Favoriten gehandelten Kardinals Joseph Ratzinger, Nachfolger von Papst Johannes Paul II. zu werden. Am Abend des Tages war die Überraschung dann um so größer: Ratzinger ist Papst, das erste deutsche Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche seit fast 500 Jahren. Als Benedikt XVI. wird er künftig den Gläubigen den Weg weisen. Die Abgeordneten des bayerischen Landtags befanden sich noch im Plenarsaal, als die Nachricht aus Rom in München ankam. Die CSU-Abgeordneten klatschten brav, bei SPD und Grünen regte sich keine Hand, nachdem die Eilmeldung vorgelesen worden war. In den zahlreichen politischen Runden in Berlin kam keine Diskussion mehr zustande, es wurde nur noch über die Papstwahl geredet. Selten hat ein Ereignis derart die Tagesordnung bestimmt. Im Deutschen Theater in Berlin, wo Altbundespräsident Richard von Weizsäcker , Wolfgang Schäuble, der Historiker Fritz Stern und der Präsident der Berliner Akademie der Künste, Adolf Muschg, auf Einladung der Körber-Stiftung über die Werte des Westens diskutierten, herrschte beim Eintreffen der Nachricht von Ratzingers Wahl beklemmendes Schweigen. Später, beim Glas Sekt, fragte man sich, ob der Mann in Rom in Zukunft die politische Tagesordnung in Deutschland ändern kann, so wie Johannes Paul II. auf Polen eingewirkt hat. Es gibt natürliche Unterschiede. Polen ist ein katholisch geprägtes Land, während sich durch den Nachbarn Deutschland die Grenze zwischen Reformation und Katholizismus zieht. Mehr noch: Die neuen Bundesländer sind nach 40 Jahren SED-Herrschaft weitgehend entchristianisiert, die Katholiken bildeten dort schon immer eine kleine Minderheit. Im Westen und Norden Deutschlands siecht die protestantische EKD dahin, der im Süden stärkeren katholischen Kirche geht es besser, aber nicht richtig gut. Das schränkt die Macht des Papsttums stark ein. Rot-Grün kommt die Wahl nicht gelegen. Das wurde schon an den ersten Reaktionen klar. Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joseph Fischer gratulieren mit deutlich erkennbarer Zurückhaltung. Die SPD-Politiker empfinden das neue Oberhaupt der katholischen Kirche als Rückschritt und drohenden Beginn einer Wende zum Konservativen, die mit der Wahl von Horst Köhler zum Bundespräsidenten begann, sich mit Ratzinger fortsetzt und im nächsten Jahr mit der Bundestagswahl das Ende von Rot-Grün bringen könnte. Gerade in Berlin, auch als heidnische Hauptstadt Europas bezeichnet, hatte die SPD zusammen mit ihrem Koalitionspartner PDS zum Versuch angesetzt, den Religionsunterricht aus den Schulen zu verdrängen und durch ein für alle Schüler verbindliches Wertefach zu ersetzen, bei dem alle Religionen und Weltanschauungen gleichberechtigt nebeneinander betrachtet werden sollen. Das durchzusetzen, dürfte jetzt um einiges schwieriger werden. Bei den Grünen, die die katholische Kirche nur in Gestalt des liberalen Zentralkomitees der deutschen Katholiken oder solcher Initiativen wie „Kirche von unten“ gut finden, herrscht größtenteils Sprachlosigkeit. Am leichtesten kommt noch die CSU mit der Entscheidung in Rom klar. Ratzinger ist gebürtiger Bayer, war Bischof in München und Freising, pflegte ausgezeichnete Beziehungen zur Bayerischen Staatsregierung und zur herrschenden CSU. Die Kontakte sind heute noch sehr eng. Die CSU, auch wenn sie starke protestantische Linien hat, dürfte die Wahl des bayerischen Papstes als Ermutigung empfinden, zumal sie in den letzten Monaten begonnen hatte, wieder stärker auf christliche Werte zu setzen und diese auch öffentlich zu propagieren. Etwas anders liegt die Sache bei der CDU. Uneingeschränkt einverstanden mit Ratzinger waren nur die Mitglieder des Kardinal-Höffner-Kreises in der Unionsfraktion, einer sehr katholisch-konservativen, aber schwachen Gruppe von nur geringem Einfluß. Die Mehrzahl der CDU-Abgeordneten sieht den Katholizismus lieber durch den Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, repräsentiert. Das sei doch ein umgänglicher Mann, mit dem man gut reden könne und der die Abgeordneten gewiß nicht in so schwierige Entscheidungen treibt, wie sie es nun mit Beratungsstellen halten, die Frauen zur Abtreibung überreden wollen. Auch nach seiner Amtseinführung vergangenen Sonntag ist nicht klar, wie Benedikt XVI. seine Schäflein in aller Welt führen will. Aber in den Parteiführungen in Berlin ahnt man längst, daß der deutsche Papst einen Schwerpunkt auf sein Vaterland setzen wird. Und ihnen dämmert, daß der Mann in Rom sich nicht auf Gebete beschränken wird, sondern vielleicht den Versuch einer Rechristianisierung Deutschlands starten könnte. Das wird für die CDU, die sich anschickt, 2006 in Deutschland die Regierung zu übernehmen, nicht einfach werden. Die römisch-katholische Kirche duldet keine Homo-Ehe und kein Adoptionsrecht für Homosexuelle, keine Beratungen zur Abtreibung, keine Sterbehilfe. Und Rom wird auch künftig mahnen, erinnern, warnen. Die „Kultur des Todes“, die in Deutschland immer stärker um sich greift, und eine Gesellschaft, die Beliebigkeit an die Stelle von Überzeugungen gesetzt hat, ist mit Ratzinger nicht kompatibel. Der neue Papst wird die Politiker an etwas erinnern, was sie gerne verdrängen: ihr Gewissen.