Nicht erst seit dem Irak-Krieg und der Wiederwahl von George W. Bush zum US-Präsidenten vergleichen viele zeitgenössische Beobachter Amerikas globale Macht mit dem letzten Kolonialreich, dem British Empire. Beide verfügten über Armeen und Militärstützpunkte überall auf der Welt. Beide exportierten ihre Sprache und Kultur, ihre Produkte, Gesetze und politischen Vorstellungen weltweit.
Ökonomen allerdings weisen auf einen entscheidenden Unterschied hin: Vor 1945 war Großbritannien der weltweit größte Gläubiger, seit 1989 sind die USA zum weltweit größten Schuldner geworden. Einfach ausgedrückt besitzen Ausländer mehr Vermögenswerte, Aktien und Obligationen, Bankeinlagen, Immobilien und Firmenanteile in den USA, als amerikanische Investoren im Ausland besitzen. Seit 2000 hat sich der negative Netto-Auslandsvermögensstatus, so der Fachbegriff für diese Bilanz, rapide verschlechtert. 2004 waren US-Vermögenswerte in Höhe von über zehn Billionen US-Dollar in ausländischer Hand, während Amerikaner acht Billionen Dollar an ausländischen Vermögenswerten besaßen – ein Minus von 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Schuldenfrage mehr als nur ein ökonomisches Problem
Diese negative Bilanz ist deswegen von großer Bedeutung, weil sie aus Sicht mancher Analysten eine strukturelle Schwäche der US-Wirtschaft mit globalen Auswirkungen kennzeichnet. Die amerikanischen Auslandsschulden könnten nicht nur ein Anzeichen dafür sein, daß das amerikanische Weltreich sich schwer überdehnt hat, wie Niall Ferguson, Emmanuel Todd und andere behaupten. Ähnlich wie zwischen 1870 und 1914, im letzten großen Zeitalter der Globalisierung, könnte sich hier eine weltweite Krise ankündigen, die die Weltordnung in ihren Grundfesten erschüttern wird.
Die Schuldenfrage ist mehr als nur ein ökonomisches Problem, sondern sie betrifft die derzeitigen geopolitischen Rahmenbedingungen der Globalisierung: Welche künftige Rolle werden China und Indien mit ihren rapide expandierenden Wirtschaften auf der Weltbühne spielen? Wie wird sich die Europäische Union als Konkurrent der Vereinigten Staaten schlagen? Wie wird die Globalisierung die Regeln kapitalistischer Produktion im 21. Jahrhundert umschreiben?
Die Kassandras in dieser Debatte um Auslandsverschuldung verweisen auf Parallelen zwischen der Weltordnung des späten 19. Jahrhunderts und der jüngeren Vergangenheit. Vor dem Ersten Weltkrieg glaubten Wirtschaftsliberale, der technologische Fortschritt im Verbund mit einem bislang ungekannten Zuwachs im Welthandel würde eine Ära des Friedens und der Stabilität herbeiführen – ähnlich dem "Ende der Geschichte", das Francis Fukuyama mit der Beendigung des Kalten Krieges gekommen sah. Sie konnten nicht vorhersehen, daß ein wackliges Bündnissystem, weltweite wirtschaftliche Instabilität und der Aufstieg des antikapitalistischen Terrorismus (die bolschewistische Revolution) zu einem katastrophalen Krieg führen würden, der die Weltordnung abrupt veränderte.
Nato hält Europa und die USA nicht länger zusammen
Heute befindet sich das westliche Bündnissystem (die Nato) ebenfalls in der Krise, da ihre Funktion Europa und die USA nicht länger wie während des Kalten Krieges zusammenhält. Wie einst der Bolschewismus stellt der islamische Fundamentalismus den westlichen Liberalismus vor eine schwere Herausforderung. Genauso wie einst Deutschland die Vorherrschaft Großbritanniens bedrohte, beginnt China seine wirtschaftliche in militärische Stärke umzusetzen.
Die echte Gefahr für die amerikanische Hegemonie, behaupten jedoch die erwähnten Kritiker, besteht in einer nackten wirtschaftlichen Tatsache: Die USA leben über ihre Verhältnisse. Die Ersparnisse der Amerikaner sind geringfügig, und die Bush-Regierung hat den Rekord-Haushaltsüberschuß der Ära von Präsident Bill Clinton in ein Rekord-Defizit verwandelt. Amerika importiert weit mehr, als es exportiert, was chronische Außenhandelsdefizite verursacht und dazu führt, daß der Dollar sich – trotz des derzeit etwas schwächelnden Euro – gegenüber anderen Währungen im freien Fall befindet. Einzig der Umstand, daß ausländische Investoren weiterhin bereit sind, amerikanische Vermögenswerte zu kaufen, hält das System noch zusammen.
Landeszentralbanken vor allem in Japan, Südkorea und China haben große Dollarvorräte, die in US-Staatsanleihen investiert sind. Wenn Investoren plötzlich auf die Idee kämen, ihre gesamten Vermögenswerte zu veräußern, weil der wachsende Schuldenberg die USA zu einem schlechten Risiko machte, könnte es zu einem Kollaps der Weltmärkte kommen, gegen den die Krise des mexikanischen Peso 1995 oder der Rubel-Crash 1998 gar nichts wären.
Gläubiger für fortdauerndes Wachstum der US-Wirtschaft
In geopolitischer Hinsicht sind das Außenhandelsdefizit und die Haushaltslöcher für die US-Regierung alarmierend, weil Staaten wie China oder Südkorea mit ihren enormen Dollarvorräten aus diesen veränderten Umstände enorme Macht erwachsen könnte. Der Volksmund weiß jedoch: Wenn jemand mir hundert Dollar schuldet, ist das sein Problem – schuldet er mir eine Million Dollar, so ist es auch mein Problem. Alle wichtigen industriellen und Entwicklungsländer haben ein Interesse daran, die Stabilität und das fortdauernde Wachstum der US-Wirtschaft zu erhalten. Sollte das amerikanische Schiff untergehen, würden eine Menge anderer Staaten mit ihm sinken.
Manchen Ökonomen zufolge hat die Höhe des Handelsdefizits als solche gar nicht viel zu bedeuten, sondern muß im größeren Kontext gesehen werden. Während Entwicklungsländer wie Brasilien oder Argentinien Rohstoffe verkaufen müssen, um ihre Schulden bezahlen zu können, "können wir so viele Dollar drucken, wie wir wollen", wie Milton Friedman, Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften und Berater der republikanischen Präsidenten Richard Nixon und Ronald Reagan, jüngst im Interview mit dem Wiener Nachrichtenmagazin Profil süffisant anmerkte. "Unsere Schulden notieren in Dollar, wir können sie jederzeit bezahlen." Ein entwickeltes Land kann sich leisten, Schulden als Investitionsausgaben zu betrachten – notwendig und sogar wünschenswert, solange das Wirtschaftswachstum eine spätere Rückzahlung zuläßt.
Auch die Zahlen zu Sparguthaben können in die Irre führen. Im Gegensatz zu den Europäern sparen Amerikaner nicht genug, heißt es immer wieder. Tatsächlich werden die Ersparnisse hauptsächlich in Bankeinlagen gemessen, während Aktien, Immobilien und andere Vermögenswerte keine Berücksichtigung finden. Bezieht man diese ein, beläuft sich die Sparquote in den USA auf etwa 20 Prozent und entspricht damit in etwa der europäischen. Aus der niedrigen Sparquote kann man schließen, daß die Amerikaner zuviel konsumieren – oder sie aber als Zeichen einer boomenden Wirtschaft sehen, in der das Geld nicht stillsitzt und stabile, aber niedrige Zinsen einbringt, sondern in innovative Firmenneugründungen, neue Technologien und andere riskante Investitionen mit hohen Dividenden fließt.
Der in den vergangenen Jahren zu beobachtende Fall des Dollarkurses gegenüber anderen Währungen ist möglicherweise ebenfalls ein falscher Alarm. Er verlief in geregelten Bahnen und trug zur Verringerung des amerikanischen Handelsdefizits bei, indem er in den USA hergestellte Waren billiger werden ließ. Ökonomen streiten sich darüber, ob der Euro den Dollar als wichtigste Leitwährung ablösen wird, doch spricht viel dagegen. Die amerikanische Wirtschaft ist immer noch um 20 Prozent größer als die der EU, und selbst wenn die profitable Integration der zehn neuen Mitgliedsstaaten gelingt – ein großes Wenn -, wird es zwanzig Jahre dauern, bis die Ökonomien der USA und der EU in etwa gleich groß sind.
Jedoch merkt C. Fred Bergsten, Direktor des Washingtoner Institute for International Economics, richtig an, daß die nationalen Rivalitäten in Europa nach wie vor Hindernisse für grenzübergreifende Fusionen von Banken und Aktienmärkten aufwerfen. Umfassende Strukturreformen wären notwendig, bevor in Europa so etwas wie die US-Staatsanleihe (treasury bond) als Vergleichswährung entstehen könnte.
Im Vergleich zu Europa haben die USA viele Vorteile
Die amerikanische Wirtschaft verfügt im Vergleich zu Europa noch über weitere Vorteile. In beiden Wirtschaftsräumen altert die Bevölkerung, doch in den USA wird das staatliche Rentensystem aus den Löhnen und Gehältern der derzeit Aktiven finanziert. Neben dem staatlichen Rentenanspruch haben viele Arbeiter und Angestellte eine betriebliche oder private Altersvorsorge. In vielen europäischen Ländern dagegen werden die großzügigen Renten direkt aus mittlerweile leeren Staatskassen bezahlt, also durch Steuern, die wiederum das Wachstum hemmen. Wenn die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten baby-boomers in den Ruhestand treten, wird zwar auch der amerikanische Rentenfonds rote Zahlen machen – ein Problem, das George W. Bush zu einer Priorität seiner zweiten Amtszeit erklärt hat -, die Pleite steht ihm jedoch erst um 2018 bevor. In Europa werden die staatlichen Rentenkassen sehr viel eher unter Druck geraten.
Hinsichtlich des Bevölkerungswachstums stehen die USA ebenfalls besser da. Anders als in Europa wird Einwanderung weiterhin gefördert, und für ausländische Arbeitskräfte gibt es tatsächlich Stellen, wenn auch zumeist schlecht bezahlte mit hoher Wochenarbeitszeit. Im Durchschnitt bringen die Einwanderer mehr Kinder zur Welt. So liegt die Fruchtbarkeitsrate in den USA bei 2,1 Kindern pro Frau, während sie in Europa Ende der 1990er um ein Drittel niedriger war (1,4 Kinder pro Frau).
Die Produktivität der Arbeitnehmer beträgt in Europa im Durchschnitt nur 84 Prozent der amerikanischen. Mit nur fünf Stunden produktiver Arbeitszeit pro Tag liegen europäische Arbeitnehmer weit hinter den amerikanischen, sie haben mehr Urlaub und sind öfter krank. Im vergangenen Jahr arbeitete der durchschnittliche Arbeitnehmer in den USA 1.792 Stunden – in Frankreich und Deutschland waren es nur 1.453 bzw. 1.446.
Diese relativen Stärken garantieren jedoch nicht die militärische und wirtschaftliche Vorherrschaft der USA für alle Zeiten. Viel wird davon abhängen, wie gut es der Europäischen Union gelingt, ihre neuen Mitglieder zu integrieren und mit dem Druck umzugehen, den die Globalisierung auf die sozialstaatlichen Modelle des 20. Jahrhunderts ausübt, an denen die Wähler nach wie vor hängen.
Der Aufstieg Chinas und Indiens wird die USA und Europa vor militärische und ökonomische Herausforderungen stellen. Thomas Friedman zufolge wird die Globalisierung nicht länger wie vom 16. bis 18. Jahrhundert von Staaten oder wie im 19. und 20. Jahrhundert von Großkonzernen betrieben. Dank moderner Kommunikationstechnologien kann Arbeit im 21. Jahrhundert überallhin ausgelagert werden, und kleinere Firmen können auf gleicher Ebene mit riesigen Konzernen konkurrieren.
Microsoft-Gründer Bill Gates ist nur einer von vielen prominenten Stimmen aus der Wirtschaft, die warnend darauf hinweisen, daß das amerikanische Schulsystem sich seit fünfzig Jahren nicht weiterentwickelt hat und die USA sich nicht länger darauf verlassen können, daß talentierte Wissenschaftler und Ingenieure aus anderen Ländern ihre Fähigkeiten an amerikanische Konzerne verkaufen. In einer "flachen Welt" ist es ebenso einfach und attraktiver für junge indische Unternehmer, in Bangalore statt in Boston eine Firma zu gründen.
Viele Europäer werfen mit dem Begriff "neoliberal" um sich, als sei er eine akkurate Beschreibung des Kapitalismus amerikanischer Art. Sie vergessen, daß die dezentralisierenden Kräfte der Globalisierung alle entwickelten Wirtschaften unter Druck setzen, den Wandel mitzumachen, statt eine lange, rückschrittliche und letztlich sinnlose Schlacht gegen zukünftige Trends auszutragen.
Die Opposition gegen die europäische Verfassung mag zu großen Teilen darauf beruhen, daß sie in einem langweiligen bürokratischen Stil abgefaßt ist – ein Dokument ohne großartige Ideen oder aufrüttelnde Rhetorik. Viele Europäer ahnen aber auch, daß der gesamteuropäische Wirtschaftsraum immer mehr den USA ähneln wird, einer Gesellschaft im ständigen Wandel, die den Kräften des Marktes ausgeliefert ist.
Ihre Ängste sind berechtigt, doch welche andere Wahl bleibt Europa denn? Allen Kassandrarufen zum Trotz sind und bleiben die USA nicht zuletzt deswegen eine große militärische und wirtschaftliche Macht, weil ihre Bürger eine ungeheure Fähigkeit haben, traditionelle Werte aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig den ständig im Wandel begriffenen Lebensbedingungen der modernen Welt anzupassen.
Daß die Europäer nach zwei Weltkriegen und dem Aufstieg und Untergang des Faschismus wie des Kommunismus mit dem erfolgreichen und stabilen Nachkriegsmodell einer Mischwirtschaft aus staatlichen Kontrollen und freiem Markt sehr zufrieden waren, ist verständlich. Das Ende der Geschichte war eine ideologisch langweilige Zeit, in der die wichtigsten politischen Parteien in Europa sich nur noch darüber stritten, welcher Seite der Gleichung mehr Gewicht zugemessen werden sollte.
Diese beschauliche Welt ist im Verschwinden begriffen, und die Europäer werden bald vor der Wahl stehen, der neuen Realität entweder ins Gesicht zu sehen oder sich mit Slogans und verschlissenen Ideen aus dem letzten Jahrhundert zu bescheiden.
Prof. Dr. Elliot Neaman lehrt für Neuere europäische Geschichte an der University of San Francisco. Er schrieb zuletzt in der JF 09/05 über die außenpolitischen Pläne der zweiten Amtszeit von US-Präsident Bush und in JF 10/05 über dessen Finanz- und Wirtschaftspolitik.