In seinem 1958 veröffentlichten Roman „Der Leopard“ läßt Giuseppe Tomasi di Lampedusa den Neffen des Titelhelden, des Fürsten Don Fabrizio, den berühmten Satz sagen: „Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert.“ Dies sollte, zumindest in Zeiten des Umbruchs, stets die Maxime eines wahrhaft aufgeklärten Konservatismus sein, der sich – um die ihm unverzichtbaren Werte zu retten – von allen morschen und überlebten Strukturen trennen muß. Ein herausragendes historisches Beispiel ist Bismarck, der als „weißer Revolutionär“ sowohl die Karte Europas grundlegend verändert als auch durch seine Gesetzgebung die damalige soziale Frage auf Jahrzehnte hinaus entschärft hatte. Wer jedoch die Zeichen der Zeit nicht rechtzeitig erkennt, dem wird politisch bald das letzte Stündlein schlagen, denn wenn Lenin zufolge der Linksradikalismus die „Kinderkrankheit des Kommunismus“ ist, dann ist die Reaktion (das Reaktionäre) die Alterskrankheit des Konservatismus. Die entscheidende Frage lautet daher: Was hat sich jeweils überlebt und muß verändert werden, was hat weiter Bestand? Was sind flüchtige Zeitgeist-Phänomene, was tiefgreifende Wandlungsprozesse? Hierauf muß korrekte Antwort finden, wer erfolgreich handeln will. So dürfte gerade unter Konservativen unstrittig sein, daß beispielsweise der Kernbestand des Sozialstaates nur noch durch radikale Strukturreformen zu retten ist. Jahrzehntelang haben die etablierten Parteien Westdeutschlands aus dem scheinbar unerschöpflichen Steuertopf kollektive Wohltaten über einheimische und ausländische Kostgänger ausgeschüttet, so daß das Land mittlerweile mit einer Schuldenlast von 1,5 Billionen Euro vor dem Staatsbankrott steht. Um ihn abzuwenden, muß daher das Sozialstaatsgebot schleunigst wieder dahingehend modifiziert werden, daß solidarische Hilfe nur jenen gewährt wird, die unverschuldet in Not geraten sind. Wie aber steht es mit der Familienpolitik? Was ist hier Zeitgeist, was objektive Notwendigkeit? Seit Monaten tobt ein Kulturkampf zwischen jenen, die das herkömmliche Modell mit der Mutter als Vollzeit-Hausfrau und dem Vater als Alleinverdiener verteidigen, und jenen, die zwecks Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Wahlfreiheit plädieren und die flächendeckende Einrichtung von Krippen und Kitas fordern. Sicher geht man nicht fehl in der Annahme, daß die eifrigsten Befürworter des zweiten Modells zum Lager derer gehören, die schon immer in der staatlichen Fremdbetreuung von Kleinstkindern den entscheidenden Hebel zur gleichmacherischen Kollektivierung und zur Zerstörung individualistischer Privatheit gesehen haben. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, daß eine zunehmende Zahl junger Paare differenzierte Lösungen für ihre Familienphase wünscht – also auf Flexibilität setzt, um mit Kind im Beruf bleiben und auch Karriere machen zu können; ganz abgesehen davon, daß viele Paare schon aus Gründen der Existenzsicherung zur doppelten Erwerbstätigkeit gezwungen sind. Aufgeklärte Konservative sollten jungen Frauen und Männern ermöglichen, zwischen verschiedenen Familienmodellen zu wählen. Nur Reaktionäre glauben, das Ehekonzept des 19. Jahrhunderts könne wieder für alle verpflichtend werden. Der eigentliche Hintergrund dieser hitzig geführten Auseinandersetzung ist die Emanzipation. „Die Frauen tragen auf ihren Schultern die Hälfte des Himmels – sie müssen sie aber erobern“, hatte einst Mao Zedong postuliert. Mittlerweile ist ihnen das, zumindest im Westen, glänzend gelungen. Noch nie in der deutschen Geschichte hat es Generationen so gut ausgebildeter Frauen wie heute gegeben. Bereits in der Schule hängen die Mädchen die meisten Jungen ab; in vielen traditionellen Männerberufen – (noch) abgesehen von Spitzenpositionen im Management – dominiert längst das weibliche Geschlecht, was wesentlich zur tiefen Krise des maskulinen Selbstverständnisses beigetragen hat. Daß die Geburtenraten in vielen westlichen Ländern, vor allem in Deutschland, so niedrig sind, dürfte eine Begleiterscheinung dieses revolutionären Prozesses sein. Mit der finanziellen Unabhängigkeit sind die Versprechen von Freiheit und Gleichberechtigung für die überwiegende Mehrheit der Frauen erstmals in Erfüllung gegangen. Daß viele von ihnen diese (auch sexuelle) Freiheit in demographisch negativer Weise nutzen, scheint Oswald Spenglers Prognose aus den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu bestätigen: „Die Emanzipation der Frau ist keine Emanzipation vom Mann, sondern eine vom Kind.“ Doch diese Phase dürfte nur vorübergehend sein. Umfragen unter jungen Frauen zeigen, daß ihnen Familie noch immer als erstrebenswertestes Lebensziel gilt. Auf Dauer wird sich somit ein differentialistischer Feminismus durchsetzen, der die unterschiedlichen Geschlechterrollen ausdrücklich betont. Er steht in diametralem Gegensatz zum egalitaristischen Konzept des Gender Mainstreaming, das die biologischen Gegebenheiten leugnet und durch Vermännlichung des Weiblichen und Verweiblichung des Männlichen die Erschaffung eines „neuen Menschen“, eines funktional austauschbaren, neutralen Wesens erstrebt. Aufgeklärte Konservative sollten daher jungen Frauen und Männern ermöglichen, zwischen verschiedenen Familienmodellen zu wählen. Nur Reaktionäre glauben, der Prozeß der Emanzipation lasse sich rückgängig machen und das Ehekonzept des 19. Jahrhunderts könne wieder verpflichtend werden. Gleichwohl ist unbestritten, daß im Zuge von Emanzipation und allgemeiner Libertinage unter der Flagge von „Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung des Individuums“ moralische Grenzen überschritten worden sind. So gipfelt die Sexualisierung der Gesellschaft mittlerweile in einer Pornographisierung des öffentlichen Raumes, die die Frage aufwirft, ob es denn oberhalb der Gürtellinie noch ein Leben gibt. Und diese Vulgarisierung und Banalisierung des menschlichen Daseins erstreckt sich auf viele weitere Bereiche: Längst schon sind Musik und Kunst Opfer des allgemeinen Werteverfalls geworden; Atonalität und Abstraktion gelten als Ausweis des „Fortschritts“ und lassen als Banausen erscheinen, wer darin oft genug nur Gaukeleien zu erkennen vermag. Form- und Stillosigkeit sind Kennzeichen eines postmodernen Kulturrelativismus, dessen nihilistisches Credo lautet: „Jeder ist Künstler!“ (Joseph Beuys) Seit einiger Zeit jedoch sind Gegentendenzen zu beobachten: in der Malerei die Rückkehr zum Gegenständlichen, ohne sich im sterilen Wiederholen vernutzter Formen zu erschöpfen; in der Erziehung das Einüben guter Manieren; in der Bildung das Aufstellen eines verbindlichen Kanons; im Privaten die Vorrangstellung von Tugenden wie Treue und Verläßlichkeit. Diese Wiederkehr des Verdrängten – von manchen als „neue Bürgerlichkeit“ apostrophiert – ist die Rache des Lebens an der Ideologie, denn einmal mehr beweist sich, daß eine Gesellschaft Werte und Regeln braucht, um ein gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen. Konservative haben das stets gewußt. Wenn jedoch viele von ihnen hinsichtlich der Rückgewinnung verbindlicher Werte auf eine Renaissance des Christentums setzen, so dürfte dies eine vergebliche Hoffnung sein. Zwar ist die Sehnsucht nach dem Religiösen in letzter Zeit deutlich gewachsen, dem Christentum aber wird sie wohl kaum Zulauf bringen. Warum auch? Mit seinen intellektuellen Absurditäten kann es seit der Aufklärung immer weniger Menschen überzeugen, und nach der Trennung von Kirche und Staat hat es als relevanter Machtfaktor ausgespielt. Staatsbildend und konstitutiv für ein funktionierendes Gemeinwesen sind denn auch keine christlichen Werte, sondern primär jene Tugenden, die, ausgehend von Preußen, fast ein Jahrhundert lang in Deutschland beispielgebend waren: Pflichtbewußtsein, Fleiß, Opferbereitschaft, Disziplin und Selbstdisziplin, Bescheidenheit, Wahrhaftigkeit, Zivilcourage, wechselseitige Loyalität von Regierenden und Regierten, Liberalität und Bürgersinn. Dieser Wertekatalog ist keine preußische Erfindung, sondern geht teilweise bis auf die Antike zurück. Unter dem aufgeklärten Monarchen Friedrich II., einem spöttischen Kirchenverächter, wurden jene Tugenden vorbildlich gelebt und zur höchsten Blüte gebracht. In einem Brief an Voltaire schrieb Friedrich: „Ich bin überzeugt, daß uns die Natur nicht geschaffen hat, um ihre Geheimnisse zu ergründen, sondern damit wir an dem Plane mitarbeiten, den sie sich vorgesetzt hat. Nutzen wir das Leben, so gut wir es vermögen, und beunruhigen wir uns nicht, ob wir aus Höherem handeln oder unserem freien Willen folgen!“ Diese Maxime führt ins Zentrum jenes Welt- und Menschenbildes, das zwischen 1750 und 1850 besonders in Deutschland zahlreiche Anhänger hatte (so Lessing, Herder und Goethe). Friedrichs Zeitgenosse, der Physiker und Schriftsteller Georg Christoph Lichtenberg, war sich daher seiner Prognose sicher: „Wenn die Welt noch eine unzählbare Zahl von Jahren steht, so wird die Universal-Religion geläuterter Spinozismus sein.“ Benedictus (Baruch) de Spinoza war 1656 wegen „schrecklicher Irrtümer“ aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgestoßen worden, weil er die Existenz eines außerweltlichen Gottes und eine Schöpfung aus dem Nichts als vernunftwidrig verneint hatte. Statt dessen vertrat er die Meinung, es gebe nur eine einzige innerweltliche Substanz, nämlich die allumfassende göttliche Natur, die ewig und unendlich sei. Da jegliches Sein und jegliches Ding der Wechselbeziehung aus der Ewigkeit des Werdens und der Vergänglichkeit des Gewordenen entspringt, hat laut Spinoza alles – ob Mensch, Tier, Pflanze oder Stein – Teil an diesem göttlichen Prozeß. Alles entstammt der schaffenden Natur, löst sich, wenn seine Zeit gekommen ist, wieder auf und kehrt in den Schoß der Natur zurück. Von dort wird es, in verwandelter Form, erneut in den ewigen Kreislauf des Lebens eintreten, wo „das Eine sich offenbart“ (Goethe). Wenn Konservative auf eine Renaissance des Christentums setzen, so dürfte dies eine vergebliche Hoffnung sein. Zwar ist die Sehnsucht nach dem Religiösen in letzter Zeit deutlich gewachsen, dem Christentum aber wird sie wohl kaum Zulauf bringen. Warum auch? Diese Idee eines ungeschaffenen und ewigen Universums, an dessen Göttlichkeit alles teilhat, ist, vielfach variiert, in der europäischen Geistesgeschichte schon vor 2.500 Jahren gedacht worden. Bereits die Vorsokratiker hatten sie auf die Formel „Eins ist alles, alles ist eins“ gebracht, wobei „alles fließt“ (Heraklit), bis es wieder zu jenem „Einem“ zurückkehrt (siehe auch JF 13/06: „Das Elend der besseren Welten“). In diesem Welt- und Menschenbild gibt es keine Erbsünde und keine göttliche Erlösung, keinen Schöpfungsbeginn und kein Weltende mit Jüngstem Gericht. Vielmehr ist der Mensch, wie der große Preußenkönig schreibt, aufgerufen, „an dem Plane der Natur mitzuarbeiten“. Als ein Teil des Ganzen muß er seinen Platz darin finden und das Göttliche in sich selbst zur größtmöglichen Entfaltung bringen. Handeln alle entsprechend ihren Fähigkeiten nach dieser Maxime, wird – wie es im preußischen Wahlspruch heißt – „Jedem das Seine“ zuteil. Ein wahrhaft aufgeklärter Konservatismus sollte sich daher nicht an falschen Fronten verkämpfen, sondern seine Kräfte für das einsetzen, was Zukunft hat, und für das, dessen Bestand für die Zukunft unabdingbar ist: Dazu gehört das Ringen um eine Geschichtspolitik, die Deutschland von seinem Dauerkniefall befreit. Dazu gehört eine Außenpolitik, die sich aus den Verstrickungen einer militanten Menschenrechtsideologie löst und sich statt dessen von wohlverstandenen nationalen Interessen leiten läßt. Ferner gehören dazu die Bewahrung des Staates als eines nach innen wie außen souverän agierenden Subjekts und die Abwehr aller Versuche, deutsche Hoheitsrechte in einem bürokratischen EU-Moloch aufgehen zu lassen. Vordringlich aber ist die Festschreibung der nationalen Identität, denn: „Jede Gesellschaft zieht ihre Grenze, indem sie die einen einbezieht und die anderen ausschließt. Im Namen des Individuums, das sich unvergleichlich setzt, oder im Namen der Menschheit als Ganzes können wir gegen dieses Prinzip protestieren – aufheben können wir es nicht“ (Karl Otto Hondrich). Wenn man bedenkt, wie innerhalb von nur dreieinhalb Jahrzehnten aus dem „deutschen Volk“ (laut Grundgesetz noch immer der Staatssouverän) im Sprachgebrauch der Politischen Klasse eine „Bevölkerung“ geworden ist, wird die Priorität dieses Kampfes deutlich. Daß Bundesminister schwören, ihre Kraft dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu „wenden“, klingt angesichts längst etablierter Parallelgesellschaften wie Hohn. Nur ein entschiedener Widerstand kann verhindern, daß es den Herrschenden gelingt, mit pausenlosen Aufrufen zur „Toleranz“ sowie gegen „Fremdenfeindlichkeit und Rassismus“ ein multikulturelles Gesellschaftsmodell durchzusetzen und den Willen zur nationalen Identität auf Dauer zu brechen. Peter Kuntze war von 1968 bis 1997 Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“. Auf dem Forum der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über „Tabus und Lebenslügen“ (JF 5/07).