Tödliche Lügen“ – „antisemitische Vorurteile“ – „Panikmache“: Diesseits wie jenseits des Atlantik tut man sich schwer, sachlich zu bleiben, wenn kritisch über Israel debattiert werden soll. Seit Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“ sei kein akademischer Essay mit solcher Wucht eingeschlagen wie die Analyse der beiden amerikanischen Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt über den Einfluß der „Israel-Lobby“ auf die Außenpolitik der USA, urteilt die New York Review of Books im Gleichklang mit der Hamburger Zeit. Der Einfluß einer mächtigen und gut organisierten Israel-Lobby, argumentieren Chicago-Professor Mearsheimer und Harvard-Mann Walt, nötige die USA zu einer Nibelungentreue gegenüber Israel, die eigenen strategischen Interessen zuwiderlaufe und die nationale Sicherheit gefährde. Die unbeirrbare finanzielle, militärische und diplomatische Unterstützung Israels habe die USA wichtige Verbündete und strategische Optionen gekostet, verhindere die Befriedung des Palästina-Konflikts und sei eher Ursache als Lösung des Terrorproblems; das Bündnis aus pro-israelischen Lobbyorganisationen mit republikanischen Neokonservativen und christlichen Fundamentalisten sei schließlich ausschlaggebend für die Irak-Kriege gewesen und dränge die USA als nächstes zum Präventivschlag gegen die iranischen Nuklearanlagen. Die These, vor anderthalb Jahren in einem Aufsatz formuliert und später in einem inzwischen auch auf deutsch vorliegenden Buch untermauert, hat beim amerikanischen Publikum offenkundig einen empfindlichen Nerv getroffen. Sie verbindet die aktuelle unbehagliche Frage, wie die USA nur in das Irak-Desaster schlittern konnten, mit dem grundsätzlichen Problem, ob Moralismus oder Machiavellismus, ob Emotion oder „sacro egoismo“ die Außenpolitik zu bestimmen habe. Es geht also um die Kernfrage der Staatenpolitik: wie und von wem die Entscheidung über Freund und Feind getroffen wird. Das allein schon hebt die Tätigkeit der Israel-Lobby über das Wirken etwa der Waffenfetischisten von der National Rifle Association hinaus, die Mearsheimer und Walt von ihren Kritikern gern als noch mächtigere, einflußreichere und zahlenstärkere Lobby entgegengehalten wird. Eher noch zieht der Vergleich mit der bis in die höchsten Kreise der Bush-Regierung gut vernetzten Öl-Lobby. Organisierte Interessenvertretung bedeutet allerdings noch lange nicht die Existenz geheimer Verschwörungen, wie Linke vom Schlage eines Michael Moore sie gerne wittern. In pluralistischen Systemen wie den westlichen Demokratien ist Lobbyismus zunächst ein legitimes Mittel der Einflußnahme auf politische Entscheidungen. Ebenso legitim ist es freilich auch, die Arbeit von Organisationen wie Aipac, dem von Bill Clinton einmal als „erfolgreichste Lobby Washingtons“ bezeichneten American Israel Public Affairs Committee, oder der Anti-Defamation League (ADL) zu kritisieren. Und da wird’s fragwürdig. Denn über jeder Erörterung des besonderen Verhältnisses der USA zu Israel hängt drohend die Antisemitismus-Keule als wirksamste Waffe der Israel-Lobby, um jegliche Kritik im Keim zu ersticken. Die akademischen Kollateralschäden der von Mearsheimer und Walt ausgelösten Kontroverse in den USA legen davon beredt Zeugnis ab. ADL-Chef Abraham Foxman zögerte nicht, die Keule mit einem Gegen-Buch („Die tödlichsten Lügen“) auszupacken. Die beiden renommierten Professoren kassierten reihenweise Absagen öffentlicher Auftritte, Walt verlor seinen Posten als Dekan der zur Harvard University gehörenden John F. Kennedy School of Government, der britische Historiker Tony Judt, selbst jüdischer Abstammung, der die US-Kollegen verteidigt hatte, wurde nach einem Anruf Foxmans von einem Vortrag wieder ausgeladen, Norman Finkelstein, Autor der „Holocaust-Industrie“, ging auf Seiten Mearsheimers und Walts seinen Erzrivalen Alan Dershowitz an und verlor mittlerweile, wohl auf dessen Druck hin, seine akademische Anstellung. Mit der deutschen Ausgabe der „Israel-Lobby“ ist die Debatte auch in der hiesigen Öffentlichkeit entbrannt. Wenngleich weniger schrill in der Formulierung, spiegeln die deutschen Feuilletons in beachtlicher Bandbreite das Spektrum der amerikanischen Debatte. Natürlich fehlt auch der Antisemitismus-Vorwurf nicht – Alan Posener, Kommentarchef der Welt am Sonntag, erhebt ihn wortgewandt im Deutschlandradio. Poseners Stoßseufzer: Auch Deutschland hätte eine „Israel-Lobby“ dringend nötig. Seine polemische Feststellung, Israels einzige Lobby in Deutschland bestehe „aus sechs Millionen toten Juden“ und dem schlechten Gewissen der Deutschen hierüber, mag erstaunen angesichts der Tatsache, daß es schließlich auch in Deutschland Organisationen gibt, die aus dieser Erinnerung politische Konsequenzen einfordern. Posener folgt in einem entscheidenden Punkt den Argumentationsmustern der US-amerikanischen Israel-Lobby: Er erklärt die Solidarität der Deutschen und Europäer mit Israel zu einer Frage des Eigeninteresses. Diese Frage verdient eine ernsthafte Erörterung: Führt das gemeinsame Interesse an einer Eindämmung des Islamismus notwendig dazu, einen Militärschlag gegen den Iran zu unterstützen? Oder haben nicht Mearsheimer und Walt recht mit ihrem Argument, daß die einseitige Unterstützung der intransigenten Politik Israels in der Region, die nicht einmal von der Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in den USA gutgeheißen wird, letztlich nicht nur westlichen Interessen schadet, sondern – wenngleich unbeabsichtigt – auch Israel selbst, das sich in eine ausweglose Situation manövriert hat? Nahezu einhellig lehnen die deutschen Kommentatoren die Orientierung von Mearsheimer und Walt am Staateninteresse als „altmodisch“ ab. Das ist bedauerlich, denn die „realistische“ Auffassung der internationalen Politik, der die beiden amerikanischen Politikwissenschaftler anhängen, führt die Beziehungen zwischen den Staaten auf ihren rationalen Kern zurück und ist allemal ein besserer Ratgeber als wolkige Universalismen und moralische Maximalismen, die für Vernebelungen und Verschleppungen taugen, aber nicht für die Auflösung von Konflikten. „Die etablierten jüdischen Organisationen“, schreibt William Kristol, der selbst zu den neokonservativen Ideologen zählt, „haben die Antisemitismuskarte so oft ausgespielt, daß sie nicht mehr sticht.“ Die Kontroverse über die „Israel-Lobby“ kann auch als Indiz gewertet werden, daß die moralisierende Außenpolitik ihren Zenit überschritten hat.