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Das Netz als Signum der Zeit

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Das Netz als Signum der Zeit

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Als „Bewußtseinsnovelle“ hat Botho Strauß sein neues Werk, das den Titel „Die Unbeholfenen“ trägt, bezeichnet. Eine Novelle, das ist ein Bericht über eine besondere Begebenheit. Diese literarische Gattung wurde in Deutschland durch die Übersetzung von Boccaccios Novellensammlung „Decamerone“ eingeführt, in deren Mittelpunkt ein kleiner Kreis von jungen kultivierten Aristokraten steht, die aus dem pestgeschüttelten Florenz aufs Land geflohen sind. Der Zeitvertreib dieser jungen Leute, die auf dem Land eine Art Arkadien errichten, besteht vor allem darin, Geschichten zu erzählen.

Strauß‘ Fluchtpunkt ist das einzige Wohnhaus in einem Gewerbegebiet, in das die Hauptfigur, der Erzähler Florian Lackner, durch seine Geliebte Nadja gerät. Lackner, von Beruf Traumdeuter, findet eine elitäre und abgeschlossene Welt vor, in der Nadja und ihre Zwillingsschwestern Ilona und Elena, ihr Bruder Albrecht, der an einen Rollstuhl gefesselt ist, sowie Nadjas ehemaliger Liebhaber Romero eine Gemeinschaft bilden, deren Kennzeichen filigrane Wortgefechte und die Erörterung philosophisch-kultureller Fragen sind. Der Rivale des Erzählers, Romero, erklärt, daß man hier in der Abgeschiedenheit über das große Ganze nachdenken wolle, frei von den Zudringlichkeiten der „Gemeinplatzbewacher“.

Daß die hier Vorgeführten Kunstfiguren sind, die wie Marionetten „an den Fäden der gemeinsamen Reflexion“ hängen, läßt Strauß selbst durchblicken, indem er im Laufe seiner Kurzprosa einfließen läßt, in welcher Tradition er sich sieht: Genannt werden Heinrich von Kleist und sein Aufsatz „Über das Marionettentheater“, Novalis‘ Klingsohr-Märchen sowie Hofmannsthals Chandos-Brief. Gemeinsam ist diesen drei Werken, daß sie in Form der symbolischen Erzählung eine gesellschaftliche Krisenstimmung thematisieren. Diese drei Referenzen sind freilich nicht die einzigen. Genannt sei hier noch Claude Lévi-Strauss, dessen Unterscheidung „Das Rohe und das Gekochte“ den beiden Zwillingsschwestern Elena („die Gekochte“) und Ilona („die Rohe“) immanent ist. Hinter diesem Gegensatz steht bei Lévi-Strauss aber nichts anderes als das Begriffspaar Natur und Kultur.

Daß Botho Strauß der Auffassung ist, daß wir uns auch hier und heute in einer Krise befinden, hat er immer wieder deutlich gemacht. Auch diesmal hält Strauß mit seiner Kulturkritik nicht hinter dem Berg, sondern zieht alle Register: angefangen von der Kritik an den Medien über die Verabsolutierung der Gegenwart, von deren Warte aus über die Vergangenheit gerichtet wird, bis hin zu der Klage über den Verlust des genuin Deutschen in der Literatur, die in Sätzen wie „Ja, es ist mir, als wäre ich der letzte Deutsche“ bzw. „Ich glaube, ich bin der letzte Deutsche“ ihren Ausdruck findet. „Wie ist es möglich“, räsoniert Strauß schließlich, „daß der Geist, dieser deutsche eben, so gewaltig und so ertragreich an sich gelitten hat, um am Ende von einem ausgelöffelten Joghurtbecher nicht unterscheidbar zu sein?“

Was nun aber ist das Signum unserer Zeit? Antwort: Sie ist nicht in der Lage, eine völlig veränderte Welt in ein Symbol zu bannen; statt dessen folgen alle den „Gesinnungsderivaten“ vergangener Epochen. Vor diesem Hintergrund können „Die Unbeholfenen“ als Versuch gedeutet werden, für die heutige Krise eine symbolische Erzählung zu formulieren. Wie aber artikuliert sich bei Strauß unsere Gegenwartskrise? Darin, daß diese Krise in keiner Weise als Krise empfunden wird. So erklärt Romero an einer Stelle seiner Reflexionen: „Zum Dilemma des verlorenen Krisenbewußtseins gehört, daß Krisen bedeutungslos überall erkannt und benannt werden. Crisis … war etwas, bei dem nichts so blieb, wie’s war, eine existentielle Gefährdung und Erschütterung von epochalem Ausmaß. Aber seine Existenz spürt der Gegenwartsmensch allenfalls noch durch das Soziale.“

Die Protagonisten gehen nichtdestoweniger auf Symbolsuche bzw. auf die Suche nach einer „Signatur des Zeitalters“, nach der „Allgültigkeit eines Begriffes“, der freilich nur dann seine „Allgültigkeit“ entfalten könnte, wenn wir uns der Bewußtseinskrise bewußt wären. Eigentlich müßte uns „der Schwindel ergreifen angesichts jener … Totalität des Zusammenhängenden: Alles miteinander vernetzt!“

Sprechende reden nur noch aneinander vorbei

Hierfür nimmt Strauß als Bild das Netz bzw. das Netzwerk („… der ergiebigste Begriff für unsere gegenwärtige Selbsterfahrung“): „Alles was wir wissen, auch das Wissen der Vergangenheit, ordnen wir jetzt mit Hilfe unseres neu erworbenen Organs, das noch keinen Namen trägt, unseres Netz-Gespürs jedenfalls. So kommt es, daß kein einziger mehr außerhalb des Netzwerks lebt oder denkt. Es bleibt in ihm und um ihn herum nichts unverwoben.“ Über die Verknüpfungen des Netzwerkes hinaus kennen und erkennen wir nichts mehr: „Synapsein wäre daher das umfassende Tätigkeits- und Erduldenswort, das sich uns anbietet. Wir leben unser Bewußtsein.“

Die intellektuelle Brillanz, mit der diese Auseinandersetzungen mehr oder weniger ohne Pause geführt werden, drängt die Frage auf, wie Strauß den Titel „Die Unbeholfenen“ gemeint haben könnte. Möglicherweise liegt die Antwort hierfür bei einer Einlassung Nadjas: „Verlaufen in der Sprache nicht alle Bedeutungen ineinander wie die Farben auf einem Turner-Bild? Und so viel Mitgeteiltes, das sich eigentlich ausschließt! Wie Farben es niemals tun. – Doch wozu sind wir da? Uns zu lieben und uns zu sprechen.“

Der hier angesprochene Bedeutungsverlust der Sprache hat zur Folge, daß Sprechende sich nur noch unbeholfen miteinander austauschen können, ja aneinander vorbeireden. Das ist nun ganz deutlich eine Anspielung auf den Chandos-Brief und dessen Feststellung, daß ihm, Chandos, „völlig die Fähigkeit abhanden gekommen (ist), über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu schreiben“. Nichts lasse sich mehr „mit einem Begriff umspannen“.

Diese Diagnose einer Sprachkrise bei Hofmannsthal nimmt Strauß auf und spannt sie in den dialektischen Bogen von Vernetzung eines Sich-nicht-mitteilen-Könnens. Es bleibt beiden Dichtern nur mehr der Wunsch nach einer Möglichkeit eines Sprechens, das „mit dem Herzen denkt“ – was wiederum die Voraussetzung von Dichtung ist.

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