Wie weit kann eine Regierung Politik am Volk vorbei machen? Der Einsatz von Tornado-Kampfjets in Afghanistan wird nach Meinungsumfragen angeblich von 70 Prozent der Bevölkerung abgelehnt. Auch in der Frage des aktuell diskutierten Bleiberechts von 200.000 abgelehnten Asylbewerbern ist der Volkswillen eindeutig. Die Mehrheit will nicht nur keine Zuwanderung mehr, sie will auch eine Abschiebung von Ausländern, die straffällig werden, und von Asylbewerbern, deren Asylgründe nicht anerkannt wurden. Doch ändert sich die Politik? Nein. Andererseits: Eine ähnlich hohe Ablehnung existierte Anfang der 1980er Jahre auch in Westdeutschland gegenüber dem Nato-Doppelbeschluß, der die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen und Marschflugkörpern zur Abwehr eines Angriffs des Warschauer Paktes vorsah. Bundeskanzler Helmut Schmidt peitschte diese strategisch begründete Entscheidung gegen den Willen der Bevölkerung und der eigenen Partei durch. Die Friedensbewegung brachte Hunderttausende auf die Straßen, trotzdem blieb der Eiserne Kanzler stur. Der Doppelbeschluß soll ein entscheidender Nagel zum Sarg der Sowjetunion gewesen sein, urteilen heute viele Historiker. Die Einführung des Euro, das Zuwanderungsgesetz, eine europäische Verfassung: Immer wieder gibt es politische Projekte, die von Parlament und Regierung am erdrückenden Volkswillen vorbei durchgesetzt werden, weil dem Volk vermeintlich die Kompetenz fehle – so heißt es. In einer repräsentativen Demokratie, wie dies die Bundesrepublik Deutschland ist, findet der Volkswille alle vier bis fünf Jahre in der Wahlkabine seinen Ausdruck. Was aber, wenn in entscheidenden Fragen keine der politisch relevanten und vom Wähler als aussichtsreiche Alternativen wahrgenommenen Parteien eine im Volk vorhandene Ablehnung artikuliert? Dann findet dieser Wille kaum Niederschlag. Gerade bei der Euro-Einführung, die von den Deutschen mit erdrückender Mehrheit abgelehnt wurde, stand dem Wähler eine nahezu geschlossene Phalanx etablierter Parteien entgegen, die den Euro durchsetzen wollte. Kommt – wie in diesem Fall – dann noch eine öffentliche Meinung aus Medien und Unternehmens-PR hinzu, die eine politische Entscheidung sanktioniert, dann erstickt der Volkswille nahezu. Insofern wirkt er sich allenfalls in stetig sinkender Wahlbeteiligung und wachsender Politikverdrossenheit aus. Parteienkritiker aller Couleur mahnen seit Jahren an, plebiszitäre Elemente auch auf landes- und bundespolitischer Ebene zu verankern. So sehr eine extreme Parteiendemokratie, wie sie derzeit herrscht, dazu neigt, der Macht der Funktionäre und Lobbyisten zu erliegen, so wenig kann man sich durch Einführung plebiszitärer Elemente um die Notwendigkeit unpopulärer Entscheidungen bringen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden, die Entscheidung über Leben und Tod, darf nicht einer Volksabstimmung unterworfen werden. Derzeit wäre womöglich eine Mehrheit für die totale Fristenlösung im Abtreibungsrecht und die Einführung der Todesstrafe. Der dem Gewissen verantwortliche Abgeordnete soll nicht aus seiner Pflicht entlassen werden.