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Meinungsfreiheit 2.0

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Jahrhundertelang war es ein mühsames Geschäft, seine Botschaften an den Mann zu bringen. Ob man Volksreden hielt oder Flugblätter verteilte, ob man Bücher schrieb oder den Weg über Zeitungen, Radiosender oder Fernsehstationen wählte – stets mußte man entweder selbst erhebliche Anstrengungen unternehmen, oder aber man war auf professionelle Vermittler angewiesen. Die technischen Grenzen der Verbreitung wurden immer weiter verschoben, aber nicht gesprengt. Heute dagegen genügen wenige Klicks, und man trifft die Welt. Die Gleichzeitigkeit des Neuen mit dem Gewachsenen mag den Blick dafür verstellen, doch es ist eine Tatsache: Der weltweite elektronische Datenverkehr hat binnen weniger Jahre die menschliche Kommunikation so gründlich revolutioniert wie vordem wohl nur die Erfindung der Schrift und der Buchdruckerkunst. Das revolutionäre Element liegt in der Demokratisierung der Kommunikationsmittel. Im europäischen Mittelalter war die Schreibkunst ein Herrschaftswissen weniger; Bücher, von Hand geschrieben, waren kostbar und selten. Gutenbergs Erfindung dagegen erlaubte höhere Auflagen und weitere Verbreitung, auf gedruckte Bibeln folgten bald Flugblätter, Pamphlete und Streitschriften mit Massenwirkung, in der Reformation erprobte Europa erstmals den medial geführten Meinungskampf. Ohne das aus der „schwarzen Kunst“ hervorgegangene Zeitungswesen ist ein politisch bewußtes und engagiertes Bürgertum, sind Aufklärung, Liberalismus und Nationalismus, Demokratie und Industrialisierung, mithin die geistige, politische und ökonomische Vormachtstellung Europas in der Neuzeit nicht denkbar. Das zwanzigste Jahrhundert stellte dem gedruckten Wort neue Medien mit vervielfachter Reichweite zur Seite, den Rundfunk, das Fernsehen, doch das Prinzip blieb dasselbe: Die Information fand über wenige professionelle Sender – Journalisten, Redakteure, Verleger, Intendanten – zu vielen und immer mehr Empfängern. Als in den Neunzigern das weltweite Datennetz das Reservat der Forschungseinrichtungen und Technikbesessenen verließ und zum Massenphänomen wurde, begannen die großen Redaktionen, ihre Inhalte ins Netz zu stellen und mit multimedialen Zusatzangeboten aufzuwerten – immer ausgehend von der klassischen Struktur: Die Online-Redaktion macht ein Angebot, und der Leser soll es kaufen oder abonnieren oder kostenfrei und werbefinanziert nutzen. Das „neue Medium“ nahm den etablierten Marktanteile ab, aber es verdrängte sie nicht- so wie das Fernsehen die Boulevardzeitung nicht obsolet machte. Konkurrenz entstand auch auf dem gedruckten Markt; wer eine Zeitung gründen oder ein Buch herausgeben wollte, war nicht mehr auf die kostspielige Infrastruktur eines Verlages angewiesen, ein Heimrechner genügte. Manches junge Projekt nutzte diese Chance und sorgte für mehr Meinungsvielfalt. Die eigentliche Revolution kam indes nach der Jahrtausendwende und nach dem großen Zusammenbruch der ersten Spekulationsblase des „neuen Marktes“: Das Internet, seinem Wesen nach unhierarchisch und dezentral, wurde interaktiv im vollen Wortsinn. Die Grenzen zwischen Autor und Konsument werden aufgehoben, das Netz wird zum Ort der Begegnung, an dem jeder mitreden und mitmachen kann. „Web 2.0“ nennt Tim O’Reilly diese neue Ära, in der nicht die alten Medien das Internet gestalten, sondern das Netz die Medien umkrempelt. Virtuelle Marktplätze und Flohmärkte, Tauschbörsen für Musik und Filme, Bilder und Kontakte erobern sich Millionengemeinden. Die Selbstdarstellung in Diskussionsforen und virtuellen Poesiealben, in Internet-Tagebüchern („Blogs“), Rollenspielen und Multimedia-Börsen wird zum Massenphänomen. Der schnelle, ohne große Investitionen praktisch für jedermann erreichbare Zugang hat Märkte und Meinungsbildung unbestreitbar demokratisiert. Brechts Traum, der Rundfunk möge nicht nur senden, sondern auch empfangen, um „den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen“, erfüllt sich im Netz. Vielleicht ist es kein Zufall, daß die politische Dimension des „Web 2.0“ zuerst auf der Linken genutzt wurde. Das Mobilisierungspotential einer vernetzten Gemeinschaft läßt auch Protestaktionen, Boykotte oder Solidaritätskampagnen in atemberaubender Geschwindigkeit machtvoll anschwellen. Splittergruppen und Einzelkämpfer, die mit ihren Anliegen sonst keinen Redaktionsfilter passiert hätten, können sich zu einflußreichen Fronten formieren und auf basisdemokratischem Umweg politischen und publizistischen Einfluß gewinnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Konservative und Nicht-Linke die „Meinungsfreiheit 2.0“ entdeckten. Seither mobilisieren Islamkritiker, Abtreibungsgegner, Familienrechtler mit ihrer intensiven Präsenz eine vom etablierten Diskurs ausgegrenzte Gegenöffentlichkeit und entfalten selbst bei geringstem Personal- und Mitteleinsatz bisweilen erstaunliche Kampagnenfähigkeit, die nicht ohne Einfluß etwa auf politische Programmdiskussionen oder die redaktionelle Linie großer Zeitungen bleibt. Leser nutzen die Kommentarfunktion ihrer Tageszeitung zu deutlichen Reaktionen, die kein Leserbriefredakteur je drucken würde, die aber gerade deshalb ihren Eindruck nicht verfehlen. Eine wirkliche Revolution in den Massenmedien müsse nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen, sondern jeden zum Manipulateur machen, hat Hans Magnus Enzensberger die Ambivalenz der Meinungsbefreiung im „Web 2.0“ vorweggenommen. In der Tat: Jede Errungenschaft birgt zugleich die Möglichkeit des Mißbrauchs. Führen virtuelle Welten zu Bewußtseinserweiterung oder Realitätsverlust? Steht nicht der Freiheit von Zensur eine Flut von Müll, Belanglosem und Redundantem gegenüber? Ähnelt manches Blog nicht eher einer beschmierten virtuellen Toilettenwand? Steht der universellen Verfügbarkeit von Informationen nicht Nivellierung und Verlust des nichtdigitalisierten Wissens gegenüber? Und schaffen die neuen Massenplattformen nicht neue Monopole und Zensurmöglichkeiten? Berechtigte Fragen – aber kein Grund, abseits zu stehen. Auch Schrift und Druckkunst wurden in der Menschheitsgeschichte nur zu oft mißbraucht. Es liegt an uns, wie und wozu wir uns der „Meinungsfreiheit 2.0“ bedienen. Selten war es leichter, seinen Verstand zu gebrauchen.

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