Er hat dem Land große Dienste geleistet, aber auch große Fehler gemacht“, erklärte der letzte Präsident der Sowjetunion, Michael Gorbatschow, am 23. April anläßlich des Todes seines einstigen Widersachers. In der Tat, Boris Nikolajewitsch Jelzin wird in die Geschichte als demokratische Symbolfigur Rußlands eingehen. Als in der Sowjetunion die Perestrojka begann, setzte der Westen zunächst auf den liberalen Kreml-Chef Gorbatschow. Doch als Jelzin in den Jahren 1989 bis 1991 bei demokratischen Wahlen ein Rekordergebnis nach dem anderen erzielte, erkannte der Westen in ihm den eigentlichen Antreiber demokratischer Reformen in Rußland. Im August 1991 besiegte Jelzin fast im Alleingang die altstalinistischen Putschisten und beendete in der UdSSR die Ära des Kommunismus. Vier Monate später löste er mit den Chefs der ukrainischen und belorussischen Sowjetrepubliken die Sowjetunion auf, warf Gorbatschow aus dem Kreml heraus und beendete den Kalten Krieg in Europa. Jelzin wollte in ehrlicher Absicht ein neues demokratisches Rußland schaffen. Auch wollte er zunächst Rußland zu einem Teil des Westens machen. Ohne zu zögern, zog er in Windeseile alle Armeeverbände aus Osteuropa ab. Die neuen unabhängigen Staaten – die ehemaligen Sowjetrepubliken – behandelte er niemals als Kolonien und sicherte ihnen die notwendige Energieversorgung. Bei seinem Besuch in Polen Mitte der neunziger Jahre sagte er, Rußland habe nichts gegen einen Nato-Beitritt Polens. 1996 kapitulierte er vor den Rebellen in Tschetschenien, als er merkte, daß der Krieg im Nordkaukasus nicht mehr zu gewinnen war. 1999, während des Nato-Krieges im Kosovo, polterte Jelzin zwar gegen den Westen, ließ sich aber schnell in eine gemeinsame Friedenslösung für den Balkan einbinden. Freilich war Jelzins Rußland in den neunziger Jahren stark abhängig vom Westen. Ohne westliche Kredite und Hilfeleistungen hätte Jelzin wahrscheinlich politisch nicht überlebt. Der Reformprozeß in Rußland wäre gescheitert. Deshalb unterstützte der Westen bedingungslos den russischen Präsidenten, auch als er sich von seinen demokratischen Grundprinzipien verabschiedete. Jelzins Rußland wurde an den Westen angebunden, an die G 7, an den Pariser und Londoner Club. Unter Jelzin zog Rußland in den Europarat ein. Heute sehnen sich viele im Westen nach der Ära Jelzins. Seine Westöffnungspolitik sicherte die Stabilität und den Demokratietransfer im Osten Europas. Heute sieht man die Entwicklung in Rußland ganz anders; der Westen fürchtet wieder das starke und selbstbewußte Rußland. Deshalb kondolieren westliche Politiker mit viel Sympathie an die Adresse des verstorbenen ersten Präsidenten des postkommunistischen Rußlands. In Rußland selbst sehen die Menschen Jelzin negativ. Laut einer Umfrage würden 35 Prozent der Russen gerne in der Ära Putins leben, 15 Prozent in der Ära Breschnews und zwölf Prozent in der Ära Stalins. Nur ein Prozent der Befragten sehnt sich nach der Zeit Jelzins. Bedauerlicherweise bleibt Jelzin bei den gegenwärtigen Russen in schlechter Erinnerung. Die nächstfolgenden Generationen werden aber seine gigantische Leistung – die Schaffung einer Demokratie in Rußland nach fast acht Jahrzehnten Kommunismus – bestimmt schon anders zu würdigen wissen. Alexander Rahr ist Programmdirektor Rußland/Eurasien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Foto: Jelzin leistet 1991 im Kreml den Eid auf die Souveränitätserklärung und die Verfassung Rußlands: Geboren 1931 im Ural-Gebiet Swerdlowsk, nach Technik-Studium beginnt er eine steile Parteikarriere. 1990 Austritt aus der KPdSU. Beim altkommunistischen Putsch im August 1991 führt er die Demokraten zum Sieg. 1996 als Präsident wiedergewählt. 1999 aus Gesundheitsgründen zurückgetreten.