Der Name des Griechen Euripides macht sich auch heute noch recht gut im Spielplan eines deutschsprachigen Theaters, gilt Euripides doch als einer der Urväter der Tragödie schlechthin. Das dachte sich wohl auch das Stuttgarter Schauspielhaus und lud zu einer „Medea“-Premiere ein. Regie führte Volker Lösch, der in jüngster Zeit auf deutschen Bühnen einige spektakuläre Inszenierungen abgeliefert hat und auch in Stuttgart eine treue Fan-Gemeinde hinter sich weiß. Und so brandete denn auch orkanartiger Jubel auf, als sich der Vorhang schließlich senkte. Wer nun aber dieser Fan-Gemeinde nicht angehört und auch nicht sogleich im Programmheft den Hinweis entdeckt hatte, daß es sich hier nicht um einen „Original-Euripides“, sondern um eine „Spielfassung nach Euripides“ von Volker Lösch (im Verbund mit seiner Dramaturgin Beate Seidel und den Darstellern) handelt, der war ebenso erstaunt wie amüsiert und zugleich auch irritiert. Und er mußte die schmerzliche Erfahrung machen: Wo Medea draufsteht, da muß Medea noch lange nicht drin sein! Diese Medea hier kommt aus der Türkei. Basta! Kurz: In Stuttgart kam nicht das tragische und grausame Schicksal einer „Medea“ (Synonym für die ewig Fremde und auch für „Kindesmord“) auf die Bühne, sondern ein völlig anderes Stück, dem man Titel hätte geben können wie „Eine Türkin in Deutschland“ oder „Der Chor der emanzipierten Weiber“ oder „Aufstand der Kopftuchträgerinnen“ etc. Warum Lösch nicht den Mut aufbrachte, sich ausschließlich zu seinem kollektiv erarbeiteten Stück (Schauspieler-Theater) zu bekennen, mag sein Geheimnis bleiben. Denn was sich da auf der Bühne tat (Carola Reuther hatte eine durchlöcherte Drehwand ersonnen, so etwas wie Kerker-und Klagemauer symbolisierend), das war – Medea hin, Medea her – in der Tat eine szenisch und vor allem choreographisch gelungene und aktuelle Auseinandersetzung mit dem immer wieder brisanten Thema des Fremdseins von Menschen, die unter uns leben, deren Fremdsein jedoch keineswegs nur durch jene verursacht wird, in deren Land sie leben. Und es geht um das Ausgeliefertsein, auch um den Verlust der eigenen und nationalen Identität eines jeden Fremden in anderen Kulturen, auch wenn der Fremde in der Fremde (Deutschland) teilweise bereits in der dritten Generation lebt. In diesem Stuttgarter „Medea“-Projekt steht also nicht die klassische, antike bruder- und kindsmordende, von Eifersucht, Haß und Rache getriebene Titelheldin als Einzelperson im Mittelpunkt einer grausigen Tat, sondern eine im Kollektiv agierende neunzehnköpfige Medea-Hydra. Der teilweise zu Disco-Folklore-Klängen operierende „Weh-und Klage-Chor“ setzt sich aus drei weiblichen Mitgliedern des Staatstheaters sowie aus 19 Laiendarstellerinnen im Alter zwischen 18 und 52 Jahren aus dem Stuttgarter türkischen Umfeld zusammen, die im „wahren Leben“ Studentinnen, Hausfrauen, Sozial- und Sachbearbeiterinnen sowie Pädagoginnen und Juristinnen sind. Die Regie hat alle diese Darstellerinnen nach ihren Lebens- und auch (Migrations)-Erfahrungen befragt, die diese mit Deutschen und mit Deutschland bisher gemacht haben. Das Ergebnis aus diesen Interviews wurde dann gemeinsam in aktuelles Erfahrungs-Theater umgesetzt. So wird Medea in Stuttgart zur Anklägerin gegen das fremde Land, gegen den fremden Staat, gegen dessen Gesellschaft, die allem Fremden gegenüber mißtrauisch und auch abweisend ist, aber auch gegen sich selbst, ebenso gegen inhumane wie aufgebende islamische Traditionen in der eigenen Familie und gegen Vorurteile auf beiden Seiten. Ihr eigenes Schicksal als emanzipierte Türkinnen in Deutschland – mal ernsthaft, mal ironisch geschildert – rückt in den Mittelpunkt, die Euripides-Medea verliert ihre Konturen, löst sich gänzlich auf, verschwindet im dramatisch-dramaturgischen Nichts … Das bekannte tragische Beziehungsgeflecht Medea-Jason-Kreon ist daher doch etwas wirr und unlogisch ausgelotet. Jason (von Sebastian Nakajew ebenso tänzerisch-akrobatisch wie mit elegant-erotischer Körperlichkeit versehen) ist nur ein smarter Schönling, der vom Euripides-Jason etwa so weit entfernt ist wie die Erde vom Mond … Und Kreon (Florian von Manteuffel) mutiert vom König zum gesichtslosen Manager, dem die Regie einige Gags und kabarettistische Solo-Einlagen zugedacht hatte. Diese „Medea“ rührt und berührt nicht, läßt keine Emotionen aufkommen, hat letztlich keine Botschaft. Fazit: Das Stuttgarter Staatsschauspiel sorgt mal wieder für Gesprächsstoff mit einer Inszenierung, die zwiespältige Empfindungen auf der einen, Begeisterung auf der anderen Seite auslöst. Die nächsten „Medea“-Aufführungen im Schauspielhaus Stuttgart, Oberer Schloßgarten 6, finden statt am 17. und 23. Juni sowie am 3., 5., 12., 20. und 23. Juli 2007. Kartentelefon: 07 11 / 20 20 90