Die Tür steht offen. An dem Griff hängt ein Schild „Die Kirche ist geöffnet“. Und schon beim Betreten fällt auf: Die St.-Johannis-Kirche in Hamburg-Eppendorf ist nicht überladen geschmückt – womit sie in der Tradition der evangelisch-lutherischen Kirche steht. Aber im Gegensatz zu den meisten evangelischen Kirchen, ist sie kein kahles Prachtstück moderner Betonarchitektur. Auch äußerlich steht sie für langbewahrte Tradition. In der hiesigen evangelischen Kirchenlandschaft ist die Eppendorfer Gemeinde etwas Besonderes. Schon oft wurde ihr Pastor Ulrich Rüß, der seit etwa 25 Jahren die Gemeinde leitet, für seine konservativen, an Bibel und Bekenntnis orientierten Positionen auch von Kirchenleitenden der Nord-elbischen Kirche kritisiert. Was die Gemeinde aber nicht vom Wachstum abgehalten hat: Sie ist eine der florierendsten Gemeinden Hamburgs und ist sogar deutschlandweit etwas Besonderes. Die Gemeinde zählt 3.500 Mitglieder. Jeden Sonntag kommen etwa 250 Menschen zur Messe. Auch heute sind dreißig Christen zum Abendgottesdienst gekommen – obwohl es Mittwoch ist und dazu noch Ferien. Manch andere Gemeinde wäre froh, wenn ihr Gottesdienst am Sonntag so gut besucht wäre. Auch die Zusammensetzung der Gottesdienstbesucher ist hier generationenübergreifend: Zur Messe kommen nicht nur alte Menschen, sondern auch viele Jugendliche und Kinder. Gottesdienste werden nicht gehalten, sondern gefeiert „Was St. Johannis von den meisten evangelischen Gemeinden unterscheidet, ist, daß bei uns Gottesdienste nicht gehalten, sondern gefeiert werden“, sagt Rüß. „Und daß wir in jedem Gottesdienst auch das heilige Abendmahl feiern.“ Hier wird der Gottesdienst nach der alten Lutherischen Messe im konservativen liturgischen Stil gehalten und von alter gregorianischer Musik begleitet. Pastor Rüß trägt statt des schwarzen Talars eine weiße Alba und eine Stola. Er sagt, er lege viel Wert nicht nur auf den Inhalt der Messe, sondern auch auf die Liturgie und die äußere Gestaltung des Gottesdienstes. „Wir feiern in der Evangelischen Messe die Gegenwart Gottes. Das ist das Heiligste im Christenleben überhaupt. Deshalb sollte die Messe auch festlich sein“, sagt er. Es seien oft Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachten. In St. Johannis gebe es zum Beispiel am Altar immer frische Blumen. Und wenn etwas vorgelesen werde, müsse der Lektor nicht nur lesen können, sondern auch angemessen gekleidet sein. „Es ist wichtig, die Messe auch auf diese Weise vom Alltag zu unterscheiden“, sagt Rüß. Diese Festlichkeit hat die Gemeinde geprägt und lockt immer mehr Menschen. St. Johannis gilt bei vielen Hamburgern als die „Hochzeitskirche“. „Das liegt daran, daß wir die meisten kirchlichen Trauungen in dieser Stadt haben. Außerdem haben wir auch überdurchschnittlich viele Taufen.“ Die Gründe für die vielen Amtshandlungen sind vielfältig. Dazu zählen dem Pastor zufolge die Attraktivität der Kirchengebäude und die festliche Art, mit welcher dort Amtshandlungen durchgeführt werden. Aber auch wenn der Pastor das nicht selber zugeben möchte, hat seine Person und die Standhaftigkeit seiner Positionen in vielen Glaubensfragen sicherlich auch etwas damit zu tun. Die Beliebtheit seiner Gottesdienste ist der beste Beweis dafür, daß eine liberale Kirchenpolitik und eine Verwässerung der eigenen religiösen Identität nicht der richtige Weg ist, Menschen für die Kirche zu gewinnen. Im Gegenteil kommen die Menschen offenbar lieber dahin, wo sie Beständigkeit, klare Positionen und Halt erkennen können. „Wir berufen uns ausschließlich auf die Bibel und sind bekenntnis-
orientiert“, sagt Rüß. Auch wenn er in seinen Predigten nicht dem Zeitgeist folge, versuche er, den Inhalt der Bibel und das Evangelium den modernen Menschen begreifbar zu machen. Denn diese frohe Botschaft sei heute immer noch genauso aktuell wie vor zweitausend Jahren. „Bei einer guten Predigt geht es doch nicht nur darum, ob ein Text aus der Bibel theologisch wertvoll ausgelegt wurde, oder ob das, was gesagt wird, den Menschen bequem ist. Vielmehr muß sie auch etwas mit dem Leben des einzelnen Menschen zu tun haben und ihn berühren. Sonst hat sie ihren Zweck nicht erfüllt“, betont er. Damit spricht er das Thema „Mission“ an. „Die Menschen, die in die St. Johannis-Gemeinde kommen, sollen deutlich und klar mit Jesus Christus und seiner frohmachenden und rettenden Botschaft konfrontiert werden. Ziel ist eine persönliche Gottes- und Christusbeziehung“, sagt Pastor Rüß. Viele Gemeinden haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in dieser Hinsicht sehr vorsichtig verhalten, um bloß niemanden zu erschrecken oder gar davonzujagen. Dadurch wurde die Kirche in vielen Punkten fad und hat an Standhaftigkeit verloren. Nicht aber die St.-Johannis-Gemeinde: „Wir haben uns nie dem Zeitgeist angepaßt. Das hat uns über die Jahre zur Profilgemeinde gemacht“, sagt Rüß. „Die Menschen wissen, was sie bei uns bekommen.“ Jesus selbst war nie populistisch oder angepaßt Er belächelt die neuerliche Entscheidung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), sich als „missionarische Kirche“ zu verstehen. „Das, was die EKD nun offiziell beschlossen hat, ist völlig bizarr: Missionarisch zu sein, ist eigentlich die wichtigste Aufgabe der Kirche überhaupt und außerdem unsere Pflicht als Christen.“ Daß St. Johannis den Missionsauftrag, den die EKD erst jetzt für sich entdeckt hat, schon immer ernst genommen hat, mache sie eigentlich zu einer progressiven statt konservativen Gemeinde, lacht Rüß. Ein Profil zu haben bedeutet auch Kritik einstecken zu müssen. „Haßbriefe habe ich allerdings bisher nicht bekommen“, sagt Pastor Rüß verschmitzt. „Aber meine theologischen Positionen sind konservativ: Ich habe zum Beispiel offen Stellung gegen die Homoehe bezogen und allgemein die Selbstsäkularisierung der Evangelischen Kirche kritisiert. Dafür habe ich sicherlich nicht immer Lorbeerkränze bekommen.“ Aber damit müsse derjenige leben können, der den Zeitgeist kritisiere und gegen den Strom schwimme. „Wenn es mal Anfragen vom Kirchenrat zu solchen Positionen gab, hat mich das nie irritiert. Im Gegenteil fühlte ich mich dadurch bestärkt. Denn Jesus selbst war nie populistisch, und er war nie angepaßt. Seine Positionen waren damals schon unbeliebt. Er wurde ja gerade deshalb gekreuzigt, weil er eben nicht ‚everybody’s darling‘ war“, betont Rüß. Deshalb müsse die Kirche heute mehr Mut haben, auch wenn viele Standpunkte antiquiert erscheinen mögen. Trotz starker Positionen habe Politisieren in der St.-Johannis-Gemeinde nie eine Rolle gespielt. „Ich maße mir nicht an, als politischer Kommentator aufzutreten. Das ist nicht mein Mandat“, sagt Rüß. Es gebe zwar wichtige Fragen wie Sterbehilfe, Abtreibung und Genforschung, zu denen man als Pastor und als Christ Stellung nehmen müsse. „Aber was mich schon als Student angewidert hat, ist, daß viele politische Probleme, Ermessensfragen und Meinungen, die direkt wenig mit Glauben und Kirche zu tun haben, zu Bekenntnisfragen hochstilisiert werden“, sagt er. Die Klerikalisierung der Politik sei aber ebenso schlimm wie die Politisierung des Klerus. Auch in Fragen des Multikulturalismus und des Islam müsse die Kirche klare Standpunkte vertreten und endlich ihre „rosarote Brille“ ablegen. „Es ist wichtig für die eigene Glaubwürdigkeit, daß man in seinen Positionen gefestigt ist. Erst dann wenn wir unsere eigene Identität definiert haben, können wir wirklich auch mit dem Islam einen ernsthaften Dialog führen“, sagt er. Die Kirche müsse sich wieder auf ihre Grundlagen berufen und falsche Toleranz verurteilen. „Wir müssen zum Beispiel jede Form von Haß und Gewalt im Rahmen einer Religion verurteilen – auch wenn das mal politisch unkorrekt sein könnte.“ Die Botschaft der Kirche ist konkurrenzlos „Die Kirche insgesamt braucht eine geistliche Erneuerung – eine Wiederentdeckung der Glaubensgrundlagen, das Leben aus dem Worte Gottes und die Hingabe an Christus“, sagt Rüß. „Wir müssen wieder die Liebe Gottes in Christus als Maßstab und als Orientierung sehen. Und das Wichtigste überhaupt: Jesus Christus wieder als Gott ansehen – nicht als ‚Propheten‘, als ‚guten Menschen‘ oder als ‚Menschenfreund'“. Die Botschaft der christlichen Kirche sei konkurrenzlos in der Welt. Christen hätten dadurch allen Grund fröhlich zu sein. „Leider beschränken wir uns aber oft auf die Rolle des politischen Kommentators oder des Moralapostels“, sagt Rüß. Beide Rollen seien grundsätzlich falsch. „Denn Jesus kam nicht, um zu verurteilen. Er ist gerade für die Sünder gestorben, nicht für die vermeintlich Guten.“ Als die Messe zu Ende geht, schreitet Pastor Rüß durch den Mittelgang und stellt sich neben die Tür. Dort verabschiedet er jeden Besucher persönlich. Er kennt die meisten mit Namen. Draußen in der herbstlichen Abenddämmerung wechseln die Kirchengänger noch ein paar Worte miteinander. Eine Frau erzählt, wie wichtig ihr die St.-Johannis-Gemeinde ist: „Ich habe hier meine geistige Heimat entdeckt. Durch diese Gemeinde habe ich wieder zu Gott gefunden“, sagt sie, bevor sie sich wieder auf den Heimweg macht. St. Johannis-Eppendorf, Ludolfstraße 66, 20249 Hamburg, Tel.: 040 / 47 79 10, Fax: 040 / 4 80 06 89, www.johannis-eppendorf.de Stichwort: Pfarrkirche St. Johannis-Eppendorf Die Wurzeln der Pfarrkirche St. Johannis in Hamburg-Eppendorf sind urkundlich erstmals für das Jahr 1267 belegt. Doch die Kirche ist mit Sicherheit wesentlich älter. Vermutlich wurde sie bereits um 840 von Eppo, Erzbischof von Reims, gegründet. Als eine der ältesten nordelbischen Gemeinden verfügte St. Johannis ursprünglich über einen umfangreichen Pfarrbezirk, der sich vom Dammtor und Schulterblatt über 14 Kilometer nach Norden bis Ochsenzoll erstreckte. Das historische Kirchengebäude von St. Johannis blieb im Zweiten Weltkrieg unversehrt. Das Kirchenschiff der einstigen Dorfkirche wurde 1622 in der jetzigen Form errichtet. Der markante Turm war ursprünglich ein Feldsteinturm. 1751 wurde er mit Ziegeln ummantelt und erhielt eine geschweifte Haube, was ihm ein leicht barockisiertes Aussehen gab. Fotos: Ulrich Rüß, seit 25 Jahren Pastor der Gemeinde St. Johannis: „Wir haben uns nie dem Zeitgeist angepaßt“, Die jahrhundertealte Kirche: Auch äußerlich steht sie für langbewahrte Tradition. Trotz konservativer Positionen ist sie für jeden offen, nur nicht für falsche Toleranz., Traditionsreiche Architektur: Jeden Sonntag besuchen etwa 250 Menschen die Messe