Wer das Zeitmanagement deutscher Richter kritisieren will, muß sich vorsehen. Sehr schnell kann ihm das als Frontalangriff auf die richterliche Unabhängigkeit ausgelegt werden. Das zeigen die schüchternen Versuche, deutschen Richtern eine – von Anwälten und Parteien gewünschte – Präsenzpflicht in den Amtsräumen der Gerichte anzusinnen. Das verfassungsrechtlich instrumentierte Protestgeschrei der Richterfunktionäre war ebenso laut wie larmoyant. Wer manche Urteile deutscher Gerichte liest, fragt sich jedoch, woher die Richter die Zeit für solche zitatenseligen, breiten Abhandlungen nehmen. Drei Beispiele sollen das belegen. Zum ersten: Was den Umfang der Begründung anbelangt, schoß das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2005 zu der Unverbindlichkeit eines militärischen Befehls wegen einer Gewissensentscheidung den Vogel ab. Ein 48jähriger Berufsoffizier konnte vor seinem Gewissen den Dienst in der Bundeswehr wegen der „rechtswidrigen Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland an dem rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak“ nicht mehr verantworten. Das Urteil, mit dem die Bundesverwaltungsrichter dem gewissensstarken Major recht gaben, umfaßt im Abdruck in der Neuen Juristischen Wochenschrift 31 Seiten, mit jeweils zwei Kolumnen und teilweise winziger Schrift. In einem normalen Format gemessen, haben die Richter ein respektables kleines Buch als Begründung abgeliefert. Zu der Breite der Ausführungen paßt die Fülle des Schrifttums- und Rechtsprechungszitate, die jeder Doktorarbeit, ach was, jeder Habilitationsschrift Ehre machen würde. Seitenlang verbreiten sich die Richter über die Fallkonstellationen, in denen ein militärischer Befehl unverbindlich ist, um dann festzustellen, daß ein solcher Fall in der konkreten Angelegenheit nicht vorliege. Seitenlang werden frühere Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Gehorsamspflicht der Soldaten – etwa zur Pflicht, sich vorbeugend gegen Wundstarrkrampf impfen zu lassen – referiert, die nur den Fehler haben, nicht recht auf den zu entscheidenden Fall zu passen. Die Richter versäumen auch nicht, die Rechtsgeschichte des militärischen Gehorsams zurückgehend bis zur preußischen Verfassung auszuloten und in die diluvialen Schichten philosophischer Ethik hinabzusteigen: „Unter Gewissen ist ein real erfahrbares seelisches Phänomen zu verstehen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für Menschen evidente Gebote unbedingten Sollens sind.“ Oder: „die kognitive Komponente des Gewissens beinhaltet das Bewußtsein spezifischer, sich selbst und/oder anderen gegenüber bestehender gewichtiger ethischer Pflichten und Normen.“ Wer sich bis dahin durchgekämpft hat, erfährt auch etwas zur völkerrechtlichen Beurteilung des Irak-Krieges und zu den sogenannten Unterstützungsleistungen – etwa Überflugrechte – der Bundesrepublik Deutschland. Unerheblich ist dagegen für das Gericht, ob der Major mit seiner konkreten Aufgabe einen relevanten Beitrag zu den Unterstützungsleistungen im Irakkrieg erbracht hätte. Ebenso fehlt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der auch für den Laien auf der Hand liegenden Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland politisch überhaupt die Möglichkeit hatte, die sogenannten Unterstützungsleistungen zu verweigern, ohne irreparable Schäden im Bündnis anzurichten. Dafür wird aber dann in voller Länge das Friedensgebet des katholischen Militärbischofs wiedergegeben. Zum zweiten Beispiel: Das Oberlandesgericht Frankfurt mußte in einer Beschwerdeentscheidung vom 25. Oktober 2005 über den Prozeßkostenhilfeantrag des Mörders des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler befinden. Es ging um die Kostenzusage für eine Klage auf Unterlassung und Schmerzensgeld in Höhe von zehntausend Euro gegen einen Leserbriefschreiber, der den Antragsteller unter anderem als einen „Unmenschen = Nichtmenschen = Niemand“ bezeichnet hatte. Da bekanntlich „Niemand“ der Folter unterworfen werden dürfe, sei die Drohung des Polizeivizepräsidenten Daschner nicht rechtswidrig gewesen. Nachdem das Landgericht Marburg die Prozeßkostenhilfe abgelehnt hatte, entschied das Oberlandesgericht zugunsten des zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilten Antragstellers. Auch die Frankfurter Richter gehen mit ihrer Begründung enorm in die Breite. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um den Klageanspruch des Mörders und Erpressers wegen einer Verletzung seines Persönlichkeitsrechts, sondern um die Frage, ob die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des Paragraphen 114 der Zivilprozeßordnung hat, mit der Folge, daß der Staat den Prozeß finanzieren muß. Normalerweise ist dies eine Angelegenheit von ein paar Sätzen. Dabei finden die Richter den Einstieg durch gewundene und mit diversen Rechtsprechungs- und Schrifttumszitaten gespickten Ausführungen zu dem, was Prozeßkostenhilfe leistet bzw. leisten kann – ein Punkt, über den gar kein ernsthafter Streit bestand. Davon ausgehend tasten sich die Richter dann im Angesicht einer befürchteten Publizität wie durch ein Minenfeld durch sämtliche in diesem Zusammenhang relevanten Themen. Zurückgehend bis zur griechischen Mythologie behandeln sie das Wesen der Satire: „Bei der vorliegend vom Ag verwendeten satireartigen Einkleidung zur Ermöglichung des ‚Subsumtionschlusses‘ unter Artikel drei der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ist bereits für die Deutung der Aussage eine Trennung zwischen dem Aussagegehalt beziehungsweise dem Aussagekern auf der einen Seite und dem vom Ag gewählten satirischen Gewand auf der anderen Seite erforderlich, weil nur so der eigentliche Inhalt der Aussage ermittelt werden kann.“ Sie grübeln in diesem Zusammenhang, ob die Gleichung „Unmensch = Nichtmensch = Niemand“ den Antragsteller der Menscheneigenschaft und der Menschenwürde beraubt, wobei der Hinweis auf die Diktion der nationalsozialistischen Propaganda nicht fehlt. Tiefgründig kreisen die Überlegungen um den „Kernbereich der Menschenwürde“ und um „die fallbezogene Güterabwägung zwischen dem Kommunikationsgrundrecht und den Interessen, die mit den allgemeinen Gesetzen verfolgt werden, nämlich dem Schutz der Menschenwürde und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts“. Zu der naheliegenden Frage, ob dem Antragsteller angesichts der von ihm begangenen Tat eine mimosenhafte Attitüde erlaubt ist, oder ob er nicht eine etwas härtere Tonart hinnehmen muß, schweigen die Oberlandesgerichtsrichter. Das gleiche gilt für die Frage der Durchsetzbarkeit des exorbitanten Schmerzensgelds, das ja für den Streitwert und die vom Staat zu tragenden Kosten von Bedeutung ist. Zum dritten: Am 25. Mai 2005 mußte das Bundessozialgericht zu zentralen Vorschriften der Hartz-Gesetze entscheiden. Es ging um die in Hartz I in Paragraphen 37 b und 140 des Sozialgesetzbuches III vorgesehene Möglichkeit der Minderung des Arbeitslosengeldes bei verspäteter Arbeitslosmeldung. Der Kläger, dem Ende September gekündigt worden war, hatte sich erst am 17. November arbeitslos gemeldet, obwohl ihn der Prokurist seiner Firma bei der Kündigung aufgefordert hatte, sich so schnell wie möglich bei der Arbeitsagentur zu melden. Da die Meldung 39 Tage zu spät erfolgte, kürzte die Behörde das Arbeitslosengeld für etwa zweiundhalb Monate wöchentlich um hundert Euro und zehn Cent. Die Bundessozialrichter waren mit dieser Kürzung nicht einverstanden, da dem Arbeitnehmer die Pflicht zur unverzüglichen Arbeitslosmeldung nicht bekannt gewesen sei, ihn folglich also kein Verschulden treffe. Die seitenlange und zitatenüberquellende Begründung des Urteils zeigt, daß sich die Richter sehr wohl bewußt waren, eine Schlüsselbestimmung der Hartz-Reform auszuhebeln. Schon beeilte sich daraufhin eine Arbeitsrechtsexpertin, Arbeitgebern bei Kündigungen von dem Hinweis auf die Meldepflicht abzuraten, um ja den Arbeitnehmern die für die volle Auskehr des Arbeitslosengeldes erforderliche „Unschuld“ zu erhalten. Natürlich ist richtig, daß die Streitsituation vor allem durch die nachlässige Arbeit des Gesetzgebers entstanden ist, der bei seiner Arbeit die Gegebenheiten einer versicherungsrechtlichen Obliegenheit nicht ausreichend beachtet hatte. Trotzdem bleibt die Frage offen, warum der Hinweis auf die Meldepflicht nur deshalb unbeachtlich sein sollte, weil sich der Prokurist der Arbeitgeberfirma nicht auf die Bestimmung des Paragraphen 37 b des Sozialgesetzbuches III bezog. Ganz abgesehen davon, daß es einem schwerfällt, bei einer siebenwöchigen Verspätung der Meldung von einem „guten Glauben“ auszugehen. So ganz unbekannt kann einem Arbeitnehmer heutzutage nicht sein, daß er im Falle der Arbeitslosigkeit selbst aktiv werden muß. Warum überzeugen alle drei Urteile nicht? Dabei geht es nicht nur um die inhaltliche Fragwürdigkeit, auch nicht um die Überzeugungskraft einer korrekt gespenglerten Paragraphenkette. Warum leuchten sie einem Normalbürger so wenig ein? Zunächst einmal deshalb, weil sie viel zu lang sind. In Abwandlung eines Satzes von Ludwig Wittgenstein: „Wovon man nicht einigermaßen knapp sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Je länger die Urteilsbegründungen werden, um so weniger werden sie in ihrem Kerngehalt wahrgenommen. Die Folge ist die Unkultur einer Leitsatzjurisprudenz beziehungsweise die Wahrnehmung der Rechtsprechung nur durch Publikationen, die auf Destillate eingedampfte Fassungen der Entscheidungsgründe bieten. Es ist verständlich, daß die Gerichte ein berechtigtes Interesse an einer umfassenden Urteilsbegründung haben, um so dem Vorwurf, eine Überraschungsentscheidung gefällt zu haben, aus dem Weg zu gehen. Es ist ferner sicher richtig, daß die Instanzgerichte und die Rechtswissenschaft von den Rechtsmittelgerichten ausführliche und gut begründete Wegweisungen erwarten. Aber ist es noch verhältnismäßig, den verletzten Ehrgefühlen eines Kindesmörders schon im Prozeßkostenhilfeverfahren diesen überdimensionierten Aufwand zu widmen? Oder den Gewissensproblemen eines demonstrativ skrupulösen Majors? Ist dieses Auswalzen des Rechtsstoffes in alle denkbaren Bereiche nicht eine Form der Feigheit, der Feigheit vor den Konsequenzen einer schwierigen Entscheidung? Viele Entscheidungen gerade der Rechtsmittelgerichte überzeugen nicht, weil sie gar keine Urteile oder Beschlüsse, sondern in Entscheidungsgründen verkappte Rechtsgutachten sind. Hier spürt man förmlich die ehemaligen Musterstudenten der Rechtswissenschaft, die die Diktion ihrer Hausarbeiten und Klausuren nie ganz hinter sich gelassen haben. Rechtliche Problemfelder und Anspruchsgrundlagen grasen sie nach der Bedeutung für den konkreten Fall hin ab, um sich dann im Ausschlußverfahren zu einer Entscheidung durchzuringen. Nichts fürchtet man mehr als den Vorwurf, einen Paragraphen übersehen zu haben, selbst wenn dieser ohnehin nicht paßt. Keinesfalls will man sich nachsagen lassen, man würde hinter dem Standard einer zünftigen wissenschaftlichen Jurisprudenz zurückbleiben. Das ist nicht nur bei den höchstrichterlichen Urteilen, sondern auch bei den Entscheidungen der Amts- und Landgerichte zu beobachten. Nach Paragraph 313, Absatz drei der Zivilprozeßordnung – der grundsätzlich auch für die Rechtsmittelgerichte gilt – enthalten die Entscheidungsgründe eine kurze Zusammenfassung der Erwägungen, auf denen die Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beruht. „Alle Ausführungen, die nicht geeignet sind, die getroffene Entscheidung zu stützen, sind fehl am Platz, verkennen das Wesen der Entscheidungsgründe und nehmen ihnen die klare Linie“, schreibt auch Mathias Reichold im Standardkommentar zur Zivilprozeßordnung Heinz Thomas/Hans Putzo. Das ist beileibe kein bloß formaler Gesichtspunkt. Wer sich als Richter wirklich auf das konzentriert, was seine Entscheidung trägt, wer bewußt seine Gedankenwege – und -irrwege – wegläßt, der erwirbt fast zwangsläufig die Disziplin, die zum Kern des Problems führt. Die Überzeugungskraft dieser und vieler anderer Urteile leidet, weil sie in einer Sprache verfaßt sind, die sich von dem Verständnishorizont der Bürger entfernt haben. „Im Namen des Volkes“ ist eine Formel, der sich viele Richter in ihrem Sprachgebrauch nicht mehr verpflichtet fühlen, wenn sie sich nicht sogar über sie mokieren. Dabei sind es nicht einmal so sehr die sattsam bekannten Unsitten der Juristensprache, die hier ins Gewicht fallen. Nein, es ist dieser Stil gelehrter Abhandlungen, der irgendeinen Parnaß juristischer Wissenschaft ansteuert und nicht das Verständnis des Bürgers. Selbstverständlich kann ein Bundesgerichtshofrichter nicht unbedingt durchgängig populär über die Finessen des verlängerten Eigentumsvorbehalts schreiben; das darf ihn freilich nicht daran hindern, die Quintessenz seiner Wertungen in verständlichen Worten wiederzugeben. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sollte ja nicht exklusiv für die Inhaber der Lehrstühle des öffentlichen Rechts gedacht sein. Könnte aber etwa ein Feldwebel der Bundeswehr sich in der Frage der Befehlsverweigerung dort eine handfeste Orientierung holen? Die Frage stellen, heißt sie zu verneinen. Auf einen Nenner gebracht: Die Rechtsprechung zumindest der Obergerichte hat sich ebenso wie die Gesetzgebung von den Bürgern weitgehend entfernt. Bernd Rüthers, eine ausgewiesene Kapazität der deutschen Rechtswissenschaft, hat jüngst den Wandel Deutschlands zu einem „Richterstaat“ beklagt. Für diese Überzeichnung dürfte vielleicht eine selektive Wahrnehmung der Rolle der Arbeitsgerichtsbarkeit mitverantwortlich sein. Tatsächlich ist die angewachsene Richtermacht das zwangsläufige Gegenstück zu einem aus dem Ruder gelaufenen Gesetzgebungsstaat. Wie sollte es auch anders sein? Der Masse der jedes Detail abgreifenden Normen entspricht eine Rechtsprechung, die selbst für den Fachmann nicht mehr überschaubar ist. Der Kontakt zum Bürger, das Gefühl für die dienende Funktion jeder Aufgabe im Rechtsleben ist längst verloren gegangen. Es ist keine Sozialromantik, sondern ein Verfassungsauftrag an die Rechtsprechung – ebenso wie an den Gesetzgeber -, für mehr Durchschaubarkeit zu sorgen. Wieland Kurzka , Jahrgang 1941, studierte Philosophie und Rechtswissenschaften und ist in der Assekuranz tätig. Der hier veröffentlichte Text basiert auf seinem Buch „Im Paragraphenrausch. Überregulierung in Deutschland – Fakten, Ursachen, Auswege“ (Resch-Verlag, Gräfelfing 2005).
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