Ihr Taschentuch fiel, aber der Kaiser der Franzosen hob es nicht auf. Königin Luise sprach im Sommer 1807 mit Napoleon I. in Tilsit, wo sie ihn erfolglos zu überreden versuchte, Preußen territorial nicht zu amputieren. In schwieriger Zeit stützte Luise, Mutter von zehn Kindern, den preußischen Staat, während ihr Mann Friedrich Wilhelm III. resignierte. Die wohl berühmteste deutsche Königin starb am 19. Juli 1810, erst 34 Jahre alt, wegen der „ehrlosen“ Situation, in der Preußen schmachtete, an gebrochener Seele, hieß es. Der Kunsthistoriker Philipp Demandt untersucht, wie und warum Luise gleich nach ihrem Tod zum „Staatsmythos“ erhoben wurde. Noch heute bezeugen viele nach Luise benannte Straßen und Plätze, Institute und Stiftungen ihre enorme Popularität. Glanzvoll erstrahlte Luises Sarkophag im Mausoleum des Charlottenburger Schlosses. „Gesellschaften oder Nationen“, schreibt Demandt, „erfinden sich Geschichten“, die kollektive Identität stiften. Luises früher Tod markiere den Anfang einer in der deutschen Geschichte beispiellosen „Verklärung“. Sie erstarrte zur „Heilsfigur und Heldin“; auch schien die Königin „bürgerliche Moral“ zu verkörpern. Eigentlich habe Luise, von Natur sinnenfroh, das Leben genießen wollen, sei jedoch extrem stilisiert worden. „Einfachheit wurde zu Bürgerlichkeit und Frömmigkeit zu Heiligkeit, Handlungswille wurde zu Todesverachtung und Entschiedenheit zu Opfergeist, Patriotismus zu Nationalismus und Schönheit zu Tugend, verschmolzen in einer Statue“. Luise galt als „Berufsgattin“, in der jede „echt deutsche Frau“ das Vorbild erblickte. Hingegen offenbare die „wirkliche“ Luise viele Widersprüche, die spätere Generationen wegretuschierten. Zu ihren Lebzeiten warf man der Königin „Vergnügungssucht“ und „Leichtsinn“ vor. Sie war „stumme Dulderin“, ebenso „wutentbrannte Amazone“. Allerdings hätten manche Historiker den Luise-Mythos schon in der Kaiserzeit durchschaut. Insofern Demandt keine Archivarien bearbeitet hat, kann er das Verhältnis von Wahrheit und Legende nicht prinzipiell neu klären. Die besten Partien des Buches betreffen die Frage, wie das Bild der Königin den Idealen verschiedener Epochen angepaßt wurde. Luises ikonenartige Gestalt entsprang laut Demandt dem Heilsbedürfnis jener Zeit. 1813 verkündete Theodor Körner: „Luise sei das Losungswort der Rache“. Man glaubte, daß Luise einen „Opfertod“ für „Preußens Wiedergeburt“ gestorben sei. Auch die Reichsgründung stand im Zeichen der Luise; ihr Sohn Wilhelm I. betonte, daß er die historische Mission der Königin erfüllt habe. Beflügelte Luise anfangs noch bürgerlich-nationales Fortschrittsdenken, so mutierte sie unter Wilhelm II. und in der Weimarer Republik zur Kronzeugin antidemokratischer und chauvinistischer Bewegungen. 1923 gründeten Frauen den republikfeindlichen „Bund Königin Luise“. Im Zweiten Weltkrieg sollte eine der Welt entrückte Luise des Volkes Durchhaltewillen stärken. Nach Kriegsende fiel Königin Luise mehr oder weniger der Vergessenheit oder Ablehnung anheim. Gewiß hat Demandt einen lesenswerten Beitrag verfaßt. Seine eigene Interpretation der Luise wirft allerdings ebenso Fragen auf. So glaubt er, daß die Königin realpolitisch „bedeutungslos“ geblieben sei. Warum setzte sie dann noch vor ihrem Tod bei vielen Menschen psychologische Kräfte frei? Luises Engagement für Staat und Land bedeutete auch einen Dammbruch, weil sie klassische Männerwelten betrat. Deshalb mißtrauten ihr, wie der Autor selbst erwähnt, schon im 19. Jahrhundert etliche Konservative. Demandt sieht in Luise nur „das geschichtslose und unschuldige, das schöne und sentimentale Preußen, das Preußen der Kunst, des Mythos und der Melancholie, abgehoben von jeder historischen Gestalt, entzogen dem Zweifel und der Zwiespältigkeit“. Die solcherart enthistorisierte Luise schrumpft in Demandts Händen zum Postkartenmotiv. Letztlich konstruiert Demandt eine Art Gegenmythos. Philipp Demandt: Luisenkult. Die Unsterblichkeit der Königin von Preußen. Böhlau Verlag, Köln 2003, geb., 559 Seiten, 36,90 Euro