Nachdem Eckhard Henscheid pünktlich zur Jahrtausendwende eine bissige Enzyklopädie der sintflutartigen Verwendung von Kultur-Komposita von der „Aktienkultur“ über die „Entfeindungskultur“ (W. Thierse) und die „Kirchentags-Kultur“ bis zur „Zweifelskultur“ (P. Sloterdijk) vorgelegt hat, versammelt dieser Band seine im Laufe der letzten Zeit verfaßten Texte zur Kulturkritik. Nicht von ungefähr beschäftigt sich der Autor in seinem ersten Essay mit der „Gesellschaft“, zitiert dabei das gerngelesene Regensburger Bistumsblatt, das unverdrossen über „Kirche in der Erlebnisgesellschaft“ sinniert und darüber auch nicht vergißt, eine sogenannte „Citypastoral“ – auf gut deutsch Stadtkirchenarbeit – anzupreisen. Nach Beobachtungen wie der sozialdemokratisch inspirierten „Teilhabergesellschaft“, der eher neokonservativen „Anspruchsgesellschaft“, der Erich Frommschen „kranken Gesellschaft“ und der „verbesserten Neuauflage und Rechtsnachfolgerin der pluralistischen“: der „multikulturellen Gesellschaft“, entdeckt Henscheid selbst in der JF ein solches Kleinod, nämlich die „infantile Gesellschaft“. Von einer alten Liebe, der SPD und der Kultur, handelt der nächste Beitrag. Darunter fällt von Iris Berben, Hannelore Elsner, Wolfgang Niedecken und Klaus Staeck über Johanno Strasser, Lea Rosh, Udo Lindenberg und Sabrina Setlur bis Friedrich Schorlemmer, Günter Grass und Peter Maffay so ziemlich alles, was Schröder, Müntefering und Kulturstaatsministerin Christina Weiss dem Hörensagen nach für Kultur halten. Geradezu genüßlich zitiert E.H. Karl Kraus‘ Verdikt über die „Verderbtheit der sozialdemokratischen Kunstpolitik“, um dann Wolfgang Thierse, dem „nicht nur momentan sackhaarigsten, sondern auch grindigsten der Gesellen“ das letzte Wort zu erteilen: „Fundamental wichtig ist das Zusammenspiel von Kultur, Demokratie und Politik … Mittlerweile gibt es 20 Kulturforen der Sozialdemokratie … mit den Freunden der volkstümlichen Musik gleichermaßen wie mit den Künstlern der jüngsten Avantgarde …“ Womit wir wieder bei der „pluralistischen Gesellschaft“ wären. Oder vielleicht doch eher bei der von Habermas „scharf ausdifferenzierten Fungesellschaft“? Sei’s drum! Ob er den zweiten Teil seiner nicht ganz so neuen Erkenntnis derart böse gemeint hat, darf man wohl bezweifeln, aber was Wahres ist immerhin dran. Das sieht auch E.H. so ähnlich, wenn er den bekannten „Literaturkritikerdarsteller aus Polen/Frankfurt“ vorstellt, dann aber doch lieber zu „Jockel Fischers halbwegs erfolgter Bewältigung einer offenbar gänzlich zwielichtigen Vergangenheit“ wechselt: „Was ein strotz-, ein furzdummes, was ein charakterhülsenleeres und zutiefst vergammeltes Leben“. Wir wollen’s nicht verschweigen: Auch die JF bekommt noch einmal ihr Fett weg. Kamen doch angesichts der sinnleeren 89er-Euphorie nicht allein E.H. Zweifel, „ob diese Bagage überhaupt mit der Dignität eines Generationenbegriffs bedacht werden darf“. Reziprok-kausal treffe sich die programmatische Stoßrichtung des JF-Herausgebers aber dann doch wieder mit den FAZschen Erkenntnisbemühungen Dietmar Daths, der in den 89ern zwar noch keine „richtige Generation“, aber doch einen geburtsmäßigen „Jauchejahrgang“ erkannt habe, nämlich „die geltungssüchtigste, ahnungsloseste, quengeligste, gierig-schmierig-widerwärtigste Verschwörung gegen die Menschlichkeit“, mit anderen Worten: „Wurscht. Wurscht. Wurscht.“ Eckhard Henscheid: Die Nackten und die Doofen. Aufsätze zur Kulturkritik. Klampen Verlag, Springe 2003, 168 Seiten, 14,80 Euro