Szenario 1: Zwölf Mädchen aus einer Oberstufenklasse eines norddeutschen Gymnasiums tun sich zu einer Fahrradtour zusammen, Am ersten Abend sitzen sie am Feuer. Nach einiger Zeit holt eine von ihnen ihre Gitarre hervor und klimpert ein bißchen herum. Einige sagen: „Können wir nicht etwas singen?“ Allgemeine Zustimmung, dann aber Ratlosigkeit. Die Gruppe kennt kein einziges Lied. Schließlich quält man sich ein paar Zeilen von „Yellow Submarine“ ab. Dann wird die Gitarre zur Seite gelegt. Szenario 2: Eine Trachtengruppe von älteren Jugendlichen wird von einer Trachtengruppe in Südfrankreich eingeladen. Voller Begeisterung fahren die jungen Leute in den Südwesten und treffen auf herzliche Gastfreundschaft. Auf einem Kulturabend stellen die Franzosen wie die Deutschen dem zahlreich erschienenen Publikum ihre Trachten vor, zeigen Volkstänze ihrer Heimat, und dann singen die Franzosen Lieder ihrer Region. Die Deutschen stehen herum. Auf die Aufforderung, nun ihre Lieder zum besten zu geben, verfallen sie in tiefe Verlegenheit. Sie können kein einziges. Szenario 3: 70. Geburtstag auf dem Lande. Im Saal eines Dorfgasthauses haben sich wohl an die hundert Gäste versammelt, Verwandte, Nachbarn, Freunde aus dem Kegelclub, von der freiwilligen Feuerwehr. Und hinten rechts um einen großen, runden Tisch sitzt die junge Generation, zwischen 18 und 30 Jahre alt. In vorgerückter Stunde werden Volkslieder angestimmt. Die Alten singen aus voller Kehle. Am Tisch der Jungen hinten rechts herrscht Schweigen. Sie gucken in den Schoß, manche verlegen, manche ratlos, manche grinsend. Niemand bewegt auch nur die Lippen. Schlußfolgerung: Das deutsche Volkslied ist, abgesehen von einigen süddeutschen Landschaften, tot. Genauer: Es ist umgebracht worden. Was ein fester Bestandteil deutscher Kultur vom Lochamer Liederbuch in der Mitte des 15. Jahrhunderts bis in das zweite Drittel des 20. Jahrhunderts war, immer wieder vom Volk gesungen, ergänzt durch neue Lieder, wird von den heutigen Deutschen nicht nur negiert, sondern mißachtet. Ein Blick in die Programmzeitschriften beweist: Kein deutscher Rundfunksender – wiederum mit Ausnahme des Bayerischen Rundfunks – weist eine Volksliedersendung aus. Das dürfte nicht nur ein Spiegelbild der deutschen Öffentlichkeit sein, sondern es ist eine der Ursachen für den Verlust dieser Seite der deutschen Volkskultur. Dabei wurde vor noch gar nicht langer Zeit auch in Deutschland in jeder gesellschaftlichen Gruppe kräftig gesungen, sogar bei den Grünen in der Anfangszeit (man denke an die Anti-Atomkraft-Lieder). Es gab in den Rundfunkprogrammen sogar zur Hauptsendezeit etwa zum „Tag der Heimat“, aber auch ohne besonderen Anlaß dem Volkslied und der Volksmusik gewidmete Sendungen, Ältere erinnern sich der großen Singeveranstaltungen im Westdeutschen Rundfunk mit dem damals dort rührigen zuständigen Abteilungsleiter, der den schönen rheinischen Namen Schmitz trug. Mitte der achtziger Jahre versickerten dann diese Programmbeiträge, bis sie ganz verschwunden waren. Noch Anfang der neunziger Jahre hatte der Norddeutsche Rundfunk sonntagmorgens eine Volksliedersendung im Programm, die dann ersetzt wurde durch eine Sendung mit dem bezeichnenden Titel „Nice n‘ easy“. Man muß nach den Ursachen fragen, denn eine Naturnotwendigkeit war das Sterben der Volkslieder in Deutschland nicht – das zeigt ein Blick auf alle unsere europäischen Nachbarländer, in denen das gemeinsame Singen zum Alltag gehört. Deutschland geht hier einen Sonderweg: Der Leiter der Heimatredaktion eines großen öffentlich-rechtlichen Senders wurde gefragt, warum er selbst in Sendungen mit Themen aus der Heimatregion keine einschlägigen deutschen Volkslieder, sondern englischsprachige Popmusik spielen läßt. Antwort: „Wir spielen keine Nazi-Musik.“ Eine große regionale Tageszeitung, die das Verschwinden unserer Volkslieder beklagt, erklärt es so: „Die Vergewaltigung deutscher Volkslieder durch die Nazis trägt nicht gerade zur Bewahrung vokalen Kulturerbes bei.“ Wenn das denn so ist, dann dürften in dem Land des Ober-Antifaschisten Erich Mielke keine alten deutschen Volkslieder gesungen worden sein. Ein Blick in das Liederbuch der Freien Deutschen Jugend „Leben – Singen – Kämpfen“ beweist jedoch das Gegenteil. Da finden wir sie alle wieder: „Wenn alle Brünnlein fließen“, „Ännchen von Tharau“, „Wenn ich ein Vöglein wär“, „Am Brunnen vor dem Tore“, „Sah ein Knab ein Röslein stehn“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“… Die angebliche Nazi-Belastung kann’s also nicht gewesen sein, was unsere Mediengewaltigen veranlaßt, deutsche Volkslieder zu boykottieren. Bei der Suche nach wirklichen Gründen stößt man auf die Ideologie der 68er Theodor Adorno, einer der Säulenheiligen jener damals verbreiteten Vorstellungen, hat dem Singen eine grundlegende Schrift gewidmet mit dem Titel „Dissonanzen“. Mit teilweise schriller Aggressivität schlägt er auf das gemeinsame Singen von Volksliedern ein. Für ihn war gemeinschaftliches Singen ein Herrschaftsinstrument der regierenden Klasse. Singen schafft Gemeinschaft, und diese war für Adorno und die Seinen, die den Menschen auf den Intellekt reduzieren wollten, einer der Hauptzielpunkte ihrer Angriffe. Gemeinschaft, egal durch welche Ereignisse zusammengefügt, sollte zerschlagen werden zugunsten der Gesellschaft, weil Gemeinschaft, vom Gefühl geleitet, unberechenbare Kräfte freisetzen kann. Sie überwindet zudem die Klassenschranken, die von den Salonkommunisten mühsam genug errichtet worden sind. Für Adorno ist das gemeinschaftliche Singen von der Schicht der gebildeten Bürger dazu benutzt worden, die arbeitenden Massen zu disziplinieren. Daher sei es zu bekämpfen. Leute, die damals zu Adornos Füßen saßen, nehmen heute leitende Funktionen in Presse, Funk und Fernsehen ebenso ein wie in den Kultusministerien, in denen die Lehrpläne der Schulen entwickelt werden. Nun verlangt aber das Publikum nach „Volksmusik“ im Fernsehen. Das zeigten einige umfangreiche Befragungen aus den siebziger Jahren. Daraufhin erfand das Fernsehen als Surrogat „volkstümliche Musik“. Sie hat überhaupt nichts mit Volksmusik zu tun. Während wirkliche Volkslieder nicht der Mode unterworfen, sondern langlebig sind und existieren, weil sie vom Volke gesungen und nicht nur konsumiert werden, ist die „volkstümliche Musik“ ein Produkt der Schlager- oder Pop-Industrie, und die ist nichts anderes als ein Wirtschaftszweig. Eine Modewelle löst die andere ab. Die Lieder werden fabrikmäßig hergestellt, sind von ermüdender Eintönigkeit sowohl im textlichen Inhalt als auch in der musikalischen Qualität. Sie sind zum schnellen Verbrauch bestimmt, sind Wegwerfware. Allerdings kann man damit viel Geld verdienen sowohl bei öffentlichen Auftritten als auch durch den Verkauf von Musikträgern. Da den Rundfunkhörern und Fernsehzuschauern keine echte Volksmusik geboten wird, nahmen sie den oktroyierten volkstümlichen Kitsch hin, der nichts ist als akustische Umweltverschmutzung, aber hohe Einschaltquoten bringt. Das Volkslied lebt nur dann, wenn es gesungen wird. Jeder, der singt, trägt zur Wiederauferstehung unserer Volkslieder bei.