Am übernächsten Dienstag wird in Görlitz ein Teil des Demianiplatzes einen neuen Namen erhalten: Platz des 17. Juni. So hat es der Stadtrat gegen die Stimmen der PDS mehrheitlich beschlossen. Die letzte geteilte Großstadt Mitteleuropas gedenkt einer Epoche jüngster deutscher Geschichte, die lange in den Archiven und in den Gedächtnissen der Menschen verborgen bleiben mußte – des Arbeiteraufstandes vom 17. Juni 1953. Abgesehen von Berlin hat in keiner anderen Stadt der DDR der Arbeiteraufstand einen derartigen Widerhall in der Bevölkerung gefunden. Die Dresdner SED-Bezirksleitung notierte im Juli 1953 in einer ersten Analyse: „Am stärksten wirkten sich die Provokationen in Görlitz aus.“ Mehr als ein Drittel der damals über 90.000 Einwohner der niederschlesischen Metropole beteiligten sich an den Protesten gegen das Regime. Die aufgebrachten Menschen stürmten das Gefängnis, befreiten die politischen Häftlinge, gründeten einen provisorischen Stadtrat, besetzten das Polizeigebäude, die Redaktion der örtlichen SED-Zeitung, den Stadtfunk, das Rathaus und die Kreisleitungen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und der SED. Und sie versuchten dabei, jeglichen Konflikten mit der sowjetischen Besatzungsmacht aus dem Weg zu gehen. Über ein Drittel der Bürger beteiligte sich an Protesten „Das Stalinbild mit Trauerflor haben wir in der Schule hängenlassen“, erinnert sich beispielsweise Wolfgang Liebehenschel. Alle anderen Bilder und politischen Spruchbänder habe man abgerissen und in den Hof geworfen. Auch habe man damals einen neuen Direktor und eine Schülerselbstverwaltung gewählt: „Wir bildeten uns ein, daß dieser Tag mit einem demokratischen Staat enden würde.“ Der heute in Berlin lebende Architekt zählt zu jener Handvoll Zeitzeugen, die in der Görlitzer Frauenkirche bei einem Gesprächsabend von ihren Erlebnissen berichteten. Dem damals 17jährigen Schüler und seinen Klassenkameraden war an jenem Tag klar, daß man sich nicht mit den Russen anlegen durfte. Daß die Besatzungsmacht ihrerseits am 17. Juni in Görlitz lange Stunden stillhielt und sich mit einer Beobachterrolle begnügte, ermutigte die Aufständigen. Selbst als Bürger den Sitz der Staatssicherheit stürmten und einzelne Stasi-Leute bewaffneten Widerstand leisteten, griffen die Sowjetsoldaten der im Nachbarhaus befindlichen sowjetischen Kommandantur nicht ein. Unter den Augen der Militärs wurde das Stasi-Hauptquartier verwüstet. Insgesamt wurden in Görlitz zwei Gefängnisse gestürmt und mehr als 400 Inhaftierte befreit. Bereits am Morgen hatten sich die Arbeiter und Angestellten der Werke des Görlitzer Lokomotiv- und Waggonbaus (Lowa) mit den Berliner Werktätigen solidarisch erklärt. Sie legten die Arbeit nieder und zogen zum EKM Maschinenbau, zur Kema und zum VEB Feinoptik. Große Teile der Belegschaften dieser Betriebe schlossen sich an. Mehr als 10.000 Beschäftige waren letztlich in den Streik getreten. In der Stadt wurden Plakate geklebt, die zum Sturz der Regierung aufriefen. Gleichzeitig wurden Transparente, Bilder und Losungen der SED abgerissen. Der Demonstrationszug der Arbeiter, dem sich viele Einwohner angeschlossen hatten, marschierte Richtung Innenstadt. Auf dem Obermarkt, dem damaligen Leninplatz, kam es zu einer gewaltigen Kundgebung mit 30.000 Menschen. Während die Demonstranten den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen, die Senkung der HO-Preise und die Aufhebung der Oder-Neiße-Grenze verlangten, versuchte Oberbürgermeister Willi Ehrlich die aufgebrachten Menschen mit nichtssagenden Floskeln zu beruhigen. Vergebens, denn das SED-Stadtoberhaupt wurde von den Versammelten kurzerhand für abgesetzt erklärt und ein Stadtkomitee gewählt, wie ein damals gemachter Tonbandmitschnitt festhält. Eine durch Armbinden gekennzeichnete, unbewaffnete Bürgerwehr sollte für Recht und Ordnung sorgen. Die Einwohner übernahmen die Macht in der Stadt. Dabei wurde versucht, friedlich und gewaltfrei zu agieren. Angriffe auf Personen, Prügel oder gar Lynchjustiz sollten unterbunden werden. Im Gegensatz zu anderen Städten, wo sich die leitenden SED- und Staatsfunktionäre nicht der streikenden und demonstrierenden Bevölkerung stellten und sich sogar vor den Bürgern in Sicherheit brachten, hätten einige Görlitzer Funktionäre versucht, mit den Aufständischen ins Gespräch zu kommen, hatte die Historikerin Heidi Roth in ihrem Buch „Der 17. Juni 1953 in Görlitz“ ermittelt. Der Görlitzer SED-Kreissekretär verteidigte später bei seinen Vernehmungen durch die Staatssicherheit seine Anweisung, nicht auf Frauen und Kinder zu schießen. Wie auch der Oberbürgermeister, die Leiter der beiden Görlitzer Gefängnisse und der MfS-Dienststellenleiter wurde er nach der Niederschlagung des Aufstandes abgelöst. Die Einwohner übernahmen die Macht in der Stadt In Görlitz änderte sich die Situation am Nachmittag des 17. Juni grundlegend. Die Sowjets verhängten über die Stadt das Kriegsrecht. Trotzdem versammelten sich auf dem Leninplatz noch einmal 30.000 bis 40.000 Görlitzer zu einer Kundgebung. Auf Aufforderungen, sich zu zerstreuen, reagierten die Menschen nur widerwillig. Schließlich tauchten erste Einheiten der Kasernierten Volkspolizei auf, vertrieben die Bürger aus dem Rathaus und versuchten, die in der Innenstadt versammelte Bevölkerung abzudrängen. Dabei wurden die Uniformierten als Volksfeinde, Strolche und Arbeiterverräter beschimpft. Dann erhielt die KVP Unterstützung durch die Besatzungsmacht. Die ersten sowjetischen Lastwagen und einige gepanzerte Fahrzeuge rollten ins Stadtzentrum. „Der Panzer drehte drohend seine Kanone über die Köpfe der Menschen“, erzählt Liebehenschel. Andererseits hätten einige Soldaten beim Anblick der Arbeiter ihre Stahlhelme abgenommen und mit ihnen den Menschen zugewinkt. In der Nacht zum 18. Juni wurde schließlich eine sowjetische Panzerdivision von Bautzen aus nach Görlitz beordert. Die Neißestadt habe „die nach Berlin massivste Truppenkonzentration während der gesamten Erhebung erlebt“, schreibt Manfred Hagen in seinem Buch „DDR – Juni 53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus“. Am Morgen des 18. Juni sei er gegen sechs Uhr vom „Klatschen russischer Panzerketten“ munter geworden, sagt Liebehenschel. Die Stahlungetüme hätten ihre Kanonen soweit es ging nach oben auf die Fenster gerichtet. Da habe er gewußt, das ist das Ende, der Zusammenbruch. Zwar streikten auch an diesem Tag noch die Belegschaften mehrerer Görlitzer Betriebe, und die Polizei notierte in ihrem Lagebericht, daß im VEB Volltuch die Belegschaft die Arbeit niederlegt, nachdem Lowa-Arbeiter sie dazu provoziert hätten. Im Lokomotiv- und Waggonbau selbst konnte die Ruhe erst hergestellt werden, nachdem sowjetische Truppen Warnschüsse abgaben. Parallel dazu versuchten Jugendliche, die Arbeiter des VEB Polygraph zum Streik zu überreden. Letztlich „normalisierte sich aber die Lage schnell“, erzählt Liebehenschel, der 1955 nach West-Berlin flüchtete. Den Menschen sei klar gewesen, daß sie gegen die russischen Panzer nichts ausrichten konnten. In den nachfolgenden Monaten habe es abschreckend hohe Haftstrafen gegen angebliche Rädelsführer. In Schnellverfahren wurden beispielsweise der am Aufstand beteiligte Autoschlosser Stefan Weingärtner und der Ingenieur Herbert Tschirner zum Tode verurteilt. Später wurden die Urteile in langjähriges Arbeitslager umgewandelt. Artur Hellwig, der für die Kundgebung auf dem Leninplatz den Stadtfunk eingeschaltet hatte, mußte für zehn Jahre ins Gefängnis. Die Schüler verspürten dagegen eine „starke politische Lockerung“, wie Liebehenschel sich erinnert. „Wir erhielten Generalamnestie, was sich am 17. Juni in den Klassenräumen zugetragen hat, wurde einfach als nicht Geschehen betrachtet.“ „Es war überall eine echte herzliche Freude am 17. Juni“ Selbst nach der Niederschlagung des Aufstandes durch die Sowjetarmee machte der städtischen SED-Führung der Geist des 17. Juni zu schaffen. Die Görlitzer Bürger hatten vorübergehend Selbstvertrauen gewonnen. Als die SED-Presse in Dresden über angeblich faschistische Provokationen in Görlitz berichtete, schrieb ein Görlitzer an den Sekretär des Rates des Bezirkes Dresden: „Es war überall eine echte herzliche Freude an diesem 17. Juni 1953 in Görlitz … es gab daher auch keine Rädelsführer.“ Später wich dieser Stolz unter den wieder zunehmenden Repressalien aber tiefer Resignation. Über das, was tatsächlich in Görlitz geschehen war, durfte fast vier Jahrzehnte nicht gesprochen werden. Erst zum 40. Jahrestag 1993 wurde eine Gedenktafel eingeweiht, die an die mutigen Frauen und Männer erinnert. Angesichts der Ereignisse in Görlitz und Umgebung am 17. Juni gilt die Stadt heutigen Geschichtswissenschaftlern als Hochburg des Widerstands gegen das SED-Regime. Deshalb hat die sächsische Staatsregierung beschlossen, in der geteilten Neißestadt die Feiern zum 50. Jahrestag des Volksaufstandes auszurichten. Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU) wird am 17. Juni gemeinsam mit Zeitzeugen und Journalisten eine Rundfahrt zu Schauplätzen der ein halbes Jahrhundert zurückliegenden Ereignisse unternehmen. In der Frauenkirche wird eine Feierstunde stattfinden. Das im Stadtzentrum unmittelbar neben dem Jugendstil-Kaufhaus stehende Gotteshaus ist auch der Mittelpunkt für zahlreiche Veranstaltungen, in denen in den vergangenen Wochen Zeitzeugen des Volksaufstandes und namhafte Historiker zu Wort kamen. Foto: Görlitzer Demonstranten am 17. Juni 1953: Auch gegen die Oder-Neiße-Grenze wurde demonstriert