Herr Professor von Arnim, die Krise in Hamburg ist vorbei, ob allerdings auch die Krise der Schill-Partei vorbei ist, ist fraglich. Wie beurteilen Sie die Vorgänge, hat das politische System in der Hansestadt in Gestalt des Schill/Beust-Eklats eine Panne erlebt, oder hat es vielmehr eine frühere „Panne“, nämlich die Beteiligung eines Außenseiters an der Macht, im Sinne der Etablierten korrigiert? Arnim: Beide Deutungen erscheinen mir etwas überinterpretiert. Es ist doch vielmehr so, daß sich Schill politisch unmöglich gemacht und dafür die Quittung erhalten hat. Im übrigen ist es doch wohl an der Tagesordnung, daß in der Politik auch Persönliches instrumentalisiert wird – zumeist bekommen wir Bürger davon nur eben nichts mit. Viele Beobachter haben auf den Rauswurf Schills und den Krach im Rathaus so reagiert, als hätten sie den Eklat im Grunde schon lange erwaret, Tenor: „War ja klar“. Gibt es eine „Gesetzmäßigkeit“, nach der politische Protestphänomene, die in rechtsorientierte Alternativparteien münden, früher oder später scheitern „müssen“? Arnim: Nein, im allgemeinen betrachtet ist das Aufkommen sogenannter „Protestparteien“ Ausdruck einer Legitimationskrise der etablierten Parteien: Die Bürger fühlen sich oder ihre Interessen nicht mehr ausreichend repräsentiert und reagieren mit Protest. Ein großes Problem für die dann entstehenden Parteien ist zum Beispiel die Fünf-Prozent-Hürde. Weil die sich tatsächlich als viel höher erweist, als es ihr nomineller Wert angibt. Der Wähler möchte nämlich auf keinen Fall, seine Stimme verschenken. So scheitern an der Hürde auch Parteien, die ohne diese durchaus sieben oder acht Prozent bekommen könnten – doch aus genannter Furcht sind viele Wähler nicht dazu zu bewegen, bei den Neuen ihr Kreuz zu machen. Ein weiterer Faktor ist, daß sich neue Parteien, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, bei den Medien durchsetzen müssen. Diese stehen aber oft unter dem Einfluß der etablierten Parteien, besonders das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Die im Grundgesetz verbriefte politische Chancengleichheit klingt schön und gut, doch da de facto eine neue Partei für die Etablierten einen Verlust an Macht bedeutet, lassen diese die Neulinge durch die Medien tüchtig deckeln. Das heißt, die Medien als Machtinstrumente der etablierten Parteien? Arnim: „Machtinstrumente“ geht vielleicht etwas zu weit, man muß sich aber bei der Beurteilung politischer Neueinsteiger durch die Medien im klaren darüber sein, daß sich die öffentliche Meinung weitgehend in den Händen der etablierten Parteien befindet, weil in vielen Medien und anderen wichtigen Institutionen Leute sitzen, die ihre Karriere einem Parteibuch verdanken. Dabei unterstelle ich nicht immer eine bewußte Manipulation. Häufig muß aber zumindest von einem unbewußten „vorauseilenden Gehorsam“ und einer „Schere im Kopf“ ausgegangen werden. Eine neue Partei muß also gewaltige Widerstände überwinden, um sich durchzusetzen, insofern ist die Leistung der Schill-Partei, die vor zwei Jahren in Hamburg fast zwanzig Prozent der Stimmen erreicht hat, beeindruckend. Wenn Entstehen und Erfolg neuer Parteien Ausdruck einer Legitimationskrise ist, warum verschwinden diese Parteien dann beinahe regelmäßig, bevor diese Krise überwunden ist? Arnim: Dieser Eindruck täuscht, oft verschwinden diese Parteien wieder, gerade weil ihr Anliegen erfüllt worden ist. Im Fall des Aufstiegs der Schill-Partei haben die etablierten Parteien die verlotterte Lage in puncto Innere Sicherheit schnell eingestanden und sich eigene Konzepte überlegt. Im Falle der Republikaner hatten nicht zuletzt deren zwischenzeitliche Wahlerfolge dazu geführt, daß die etablierte Politik Maßnahmen gegen den Mißbrauch des Asylrechtes ergriffen hat und damit den Republikanern den Wind aus den Segeln nahm. Das ewige Scheitern der Kleinen ist also eigentlich ein Beweis für ihren Erfolg? Arnim: In gewisser Weise ja. Aber das Scheitern neuer Parteien ist mit politischen Korrekturen durch die Etablierten allein doch wohl nicht zu erklären? Arnim: Diese Parteien scheitern in der Tat nicht nur am eigenen Erfolg. Ein weiteres großes Problem ist die Unerfahrenheit ihres Personals, die – und da schließt sich der Kreis – von der überlegenen Medienmacht der Etablierten nur zu gerne ausgeschlachtet wird. Zudem stellen solche Parteien meist „bunte Haufen“ dar, die sich schnell zusammengefunden haben aber weder aufeinander eingespielt sind noch unbedingt die gleichen Zielvorstellungen haben. Das alles macht diese Parteien meist nicht tauglich, über einen konkreten Fall von politischem Protest hinaus das Vertrauen der Wähler als echte Alternative zu den Etablierten zu gewinnen. In den Medien wird ihr Personal statt als nur unerfahren oft als menschlich unzulänglich dargestellt. Arnim: Diesem in der Tat gern kolportierten Unterton in den Medien würde ich mit Vorsicht begegnen. Wie es aber tatsächlich um das Personal der Neuen bestellt ist, kann man nur von Fall zu Fall beurteilen und nicht pauschal. Es ist bekannt, daß es auch bei den Etablierten eine große Zahl von Skandalen gibt. Ämterpatronage in Verwaltung und Justiz ist zum Beispiel in Deutschland beinahe Alltag. Dieses Verhalten ist so verbreitet, daß sich inzwischen offenbar schon jedes Unrechtsgefühl dafür auflöst – obwohl ein solches Verhalten nicht nur rechts-, sondern sogar verfassungswidrig ist. Nicht einmal mehr die Medien regen sich noch wirklich darüber auf. Was insofern nicht verwundert, als viele entscheidende Posten bei den öffentlich-rechtlichen Medien ja genau nach dieser Methode besetzt worden sind. Das Problem reicht bekanntlich bis hinauf ins Bundesverfassungsgericht. Würde solches Verhalten von Neueinsteigern praktiziert, bräche sofort ein Sturm der Entrüstung los. Als Alternative zu neuen Parteien haben seit einiger Zeit „Bürgerbewegungen“ Konjunktur, Stichwort „Bürger auf die Barrikaden“. Gibt es unter unseren Bürgern dazu überhaupt genug Empörungs- und Reformbereitschaft? Arnim: Zumindest die Bereitschaft zu Veränderungen sehe ich bei den Bürgern in ausreichendem Maße. Ich glaube, daß die Menschen durchaus zu grundlegenden Veränderungen, ob auf diese ohne jene Art, bereit sind – wenn ihnen jemand nur reinen Wein einschenkt und ihr Vertrauen gewinnt. Eine rechte Protestpartei wie in den achtziger Jahren die Republikaner gilt als zu rechts, also als im Grunde zu stark profiliert, um beim Normalbürger Erfolg zu haben. Protestparteien der Mitte wie die Stattpartei oder der Bund freier Bürger dagegen gelten als an ihrem mangelnden Profil gescheitert. Wie muß die langfristig erfolgreiche Protestpartei also aussehen? Arnim: Vor allem muß sie ehrlich sein, sie muß die Probleme offen ansprechen, auch die Probleme, die die politische Klasse selbst erst hervorgerufen hat. Sie muß den Wähler überzeugen, daß solche Mißstände nicht auch bei ihr einreißen. Sie muß eine charismatische Führung haben, um sich gegen das Kartell aus politischen Etablierten und Medien durchzusetzen. Allerdings darf diese Führungsfigur sich eben nicht wie Schill eine Reihe politischer „Aussetzer“ erlauben, schon weil diese sonst von Etablierten und Medien gnadenlos ausgeschlachtet werden. Es muß also im Grunde eine Partei von Göttern sein. Keine Analyse, die die Hoffnung weckt, das politische System in Deutschland hätte jemals noch die Chance zur Reform. Arnim: Veränderungen kann es auch auf anderem Wege geben, zum Beispiel durch eine Reform der Institutionen und Prozesse. Ich denke etwa an die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheid auf Bundesebene, also die Etablierung direktdemokratischer Elemente in die Politik. Dazu gehört auch der von Ihnen in die Diskussion eingeführte Vorschlag einer Direktwahl der Ministerpräsidenten. Arnim: Es ist durchaus ein erheblicher Unterschied, ob ein Regierungschef direkt vom Volk gewählt oder – wie zum Beispiel Ole von Beust – von einer wackeligen Dreierkoalition getragen wird. In den meisten deutschen Städten werden heute die Bürgermeister direkt gewählt, und man hat gute Erfahrungen damit gemacht. Ministerpräsidenten wie Dieter Althaus in Thüringen, Georg Milbradt in Sachsen, Matthias Platzeck in Brandenburg, Peer Steinbrück in NRW oder bis vor kurzem noch Siegmar Gabriel in Niedersachsen haben den Bürgern noch nicht einmal indirekt zur Wahl gestanden, da diese noch von ihren Vorgängern gewonnen wurden. Sie verdanken ihr Amt allein der Partei. Das erzeugt beim Bürger doch das Gefühl, die politische Klasse schalte und walte auch ohne ihn – so etwas nährt unterschwellig die Politikverdrossenheit. Bei einem direktdemokratischen System müßte der Ministerpräsident bei Rücktritt automatisch neu gewählt werden. Und im übrigen hätte der Bürger Einfluß bis in den Bundesrat, der dann in gewisser Weise vom Volk direkt beschickt werden würde. Das würde auch die Gefahr parteipolitischer Blockade im Bundesrat mindern, da ein direkt gewählter Ministerpräsident sich nicht so leicht parteipolitisch instrumentalisieren läßt wie ein nicht direkt legitimierter Landeschef. Welche Chancen haben diese Veränderungen durch Reform statt durch parteipolitische Alternativen? Arnim: Ihre Durchsetzung ist natürlich – das will ich nicht verschweigen – ebenfalls sehr schwer. Zwar bekommt, wer solche Pläne theoretisch vorträgt, viel Zustimmung, wenn es dann aber an die Umsetzung gehen soll, tut sich nichts. Die politische Klasse fürchtet den Systemwechsel. Die Eigeninteressen der Etablierten stehen einer Reform des Föderalismus ebenso entgegen wie der Reform des Wahlrechts und der Einführung der Direktwahl des Regierungschefs. Was meinen Sie mit Systemwechsel? Arnim: Die Direktwahl des Ministerpräsidenten würde in dem betreffenden Bundesland zu einem präsidentiellen System führen statt des parlamentarischen, wie wir es bisher haben. Konkret heißt das, Parlament und Regierung würden entzerrt und auf ihre traditionellen demokratischen Aufgaben zurückgeführt: Die Regierung regiert, das Parlament macht Gesetze, beziehungsweise kontrolliert die Regierung – die Gewaltenteilung wäre wiederhergestellt. Ginge mit der Rückkehr zur Gewaltenteilung auch eine Direktwahl der Abgeordneten einher? Arnim: Ja, denn unsere Wahlen mit geschlossenen Listen führen zu einer größeren Abhängigkeit der Parlamentarier von den Parteien als von den Wählern. Das müßte geändert werden. Ein Mehrheitswahlrecht würde aber zu einer Dominanz der beiden großen Parteien führen, wie im politischen System der USA oder Großbritanniens. Politische Neueinsteiger hätten erst recht keine Chance mehr – die Etablierten lachen sich ins Fäustchen. Arnim: Direktwahl bedeutet nicht automatisch Mehrheitswahlrecht wie in den genannten Ländern. Denkbar wäre, das Verhältniswahlrecht beizubehalten, aber die Listen für den Wähler zu öffnen. Die Deutschen würden also in den vorgeschlagenen Listen die Kandidaten darauf direkt wählen, etwa durch Panaschieren, also durch Verteilen von Stimmen auf verschiedene Kandidaten verschiedener Listen, und durch Kumulieren, also durch Häufen mehrerer Stimmen auf einen bevorzugten Kandidaten. So schwierig es sein mag, solche Veränderungen durchzusetzen, unmöglich ist es nicht. Die Einführung der direkten Bürgermeisterwahl in allen dreizehn Flächenländern – die Bayern, Badener und Württemberger kannten diese Praxis ohnehin – erfolgte durch den Druck von Volksbegehren. 1991 haben die Bürger in Hessen diese Veränderung per Volksentscheid erreicht. Daraufhin haben andere Landesregierungen, etwa in Niedersachsen, NRW, Schleswig-Holstein und dem Saarland, die sich zuvor dagegen gesträubt hatten, allein als Reaktion auf den Beginn ähnlicher Volksbegehren in ihren Ländern „von alleine“ die kommunale Ebene entsprechend reformiert, um nicht von der direktdemokratischen Entwicklung überholt zu werden. Und nach diesem Vorbild könnten auch die Landesverfassungen reformiert werden, gegen den anfänglichen Widerstand der Parlamente. Denn in den meisten Ländern kann durch Volksbegehren und Volksentscheid auch die Landesverfassung geändert werden. Dennoch, ist es nicht bezeichnend, daß wir politische Veränderungen in unserem Land auf diesem institutionellen Weg herbeiführen müssen? Der klassische Weg in der Demokratie ist nun einmal die Parteienkonkurrenz. Wenn diese nicht mehr funktioniert, was sind wir dann eigentlich: eine demokratische Diktatur? Arnim: Wir haben in vielen zentralen Fragen in der Tat ein politisches Kartell der Etablierten. Das kann letztlich nur durch mehr direkte Demokratie aufgebrochen werden. Haben Sie die Hoffnung auf Veränderungen durch Entstehung einer neuen Partei aufgegeben? Arnim: Nein. Räumen Sie der Schill-Partei noch Chancen ein, eine solche Partei zu sein? Arnim: Ohne Schill an der Spitze fehlt der Partei die Identifikationsfigur – nein. Prof. Dr. Hans-Herbert von Arnim geboren 1939 in Darmstadt. Der renommierte Parteienkritker ist seit 1981 Professor für Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, deren Rektor er von 1993 bis 1995 war. Zuvor leitete er von 1968 bis 1978 das Karl-Bräuer-Instituts des Bundes der Steuerzahler. Von 1993 bis 1996 war er Mitglied des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg. Mit seinen Büchern kritisiert von Arnim immer wieder scharf die rapide zunehmende Abkapselung der politischen Klasse von Volk, Verfassung und Demokratie. Zuletzt erschienen unter anderem: „Der Staat als Beute“ (Knaur, 1993), „Fetter Bauch regiert nicht gern“ (Kindler, 1997), „Vom schönen Schein der Demokratie“ (Droemer, 2000) und aktuell: „Das System. Die Machenschaften der Macht“ (Droemer, 2001). weitere Interview-Partner der JF