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Protestwelle in der Türkei: Erdogan ist kein Partner für die Nato und die EU

Protestwelle in der Türkei: Erdogan ist kein Partner für die Nato und die EU

Protestwelle in der Türkei: Erdogan ist kein Partner für die Nato und die EU

Proteste gegen Erdogan
Proteste gegen Erdogan
Proteste am 29. März 2025 gegen die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, dem wichtigsten Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Foto picture alliance, NurPhoto, Francesco Militello Mirto
Protestwelle in der Türkei
 

Erdogan ist kein Partner für die Nato und die EU

Die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul und Präsidentschaftskandidaten Ekrem İmamoğlu bringt Millionen Türken auf die Straße. Der Türkei-Experte und Politikwissenschaftler Ferhad Seyder spricht mit der JF über Erdoğans brutalen Kampf gegen die Opposition.
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Sehr geehrter Ferhad Seyder, Istanbuls Bürgermeister Ekrem İmamoğlu wurde vergangene Woche festgenommen. Ihm wird Korruption vorgeworfen und daß er eine terroristische Organisationen unterstützt habe. Sind die Vorwürfe stichhaltig?

Ferhad Seyder: Der Vorwurf der Korruption ist ein Standardvorwurf der türkischen Justiz. Er muß nun spezifiziert und vor allem bewiesen werden. Wenn Vermittlung von Geschäften und Vergabe von öffentlichen Wirtschaftsaufträgen Überschreitungen des Rechts sein sollten, dann müssen auch die Wirtschaftsaktivitäten der regierenden AKP genauso unter der Lupe genommen werden. Was der Vorwurf der Kontaktnahme und Zusammenarbeit mit den terroristischen Gruppen anbelangt, könnte sich dies auf die Wahlbündnisse der oppositionellen linksnationalen Republikanischen Volkspartei (CHP) mit der kurdisch geprägten DEM-Partei beziehen. Sowie auf Kontakte mit der Demokratischen Kongreß der Völker (HDK). Kurios ist der Umstand, daß beide Organisationen legale, transparente Organisationen sind.

İmamoğlu wird zudem zur Last gelegt, daß er seinen Universitätsabschluß unrechtmäßig erworben habe. Was ist da dran?

Seyder: İmamoğlu hatte sich für ein Studium an einer Universität der Republik Nordzypern eingeschrieben. Er erhielt auch einen Studienplatz und schloß dort sein Studium ab. In den Universitäten der Republik Nordzypern mußten die Studienbewerber sich keiner allgemeinen Universitäts-Aufnahmeprüfung unterziehen. Also anders als in der Türkei. Da viele Studenten diesen Umweg gegangen sind, muß diese Frage juristisch geklärt werden und Tausende ehemalige Studenten dann ebenso ihre Abschlüsse verlieren.

İmamoğlu will gegen die Entscheidung vor Gericht ziehen, habe aber das Vertrauen in die Justiz verloren. Wie steht es um das Justizwesen in der Türkei?

Erdoğan bereitet sich auf eine neue Amtszeit vor

Seyder: Es ist kein Geheimnis, daß die Justiz in der Türkei eine wichtige Institution des tiefen Staates ist. Der tiefe Staat (türk. Derin Devlet), ist ein Geflecht aus Politik, Justiz, Verwaltung und den Sicherheitskräften. Er fühlt sich immer dazu berufen, die aktuelle Regierung zu unterstützen.

Präsident Recep T. Erdoğan tut so, als wäre nichts gewesen. Wie sehen Sie dieses Verhalten?

Seyder: Allem Anschein nach dürfte Erdoğan von dem politischen Demontageversuch İmamoğlus durch die Justiz profitieren. Es besteht außerdem der Verdacht, daß die Justiz dem Präsidenten einen Dienst erwiesen hat. Es ging darum, einen gefährlichen Konkurrenten bei den kommenden Präsidentschaftswahlen aus dem Weg zu räumen. Da diese erst in drei Jahren abgehalten werden, muß Erdoğan noch viele Hürden überwinden. Dazu gehört die Zulassung seiner Kandidatur für eine weitere Amtszeit, die ohne Verfassungsänderung nicht möglich ist.

Einen Dienst erwiesen?

Seyder: Es ist in der Türkei Usus geworden, daß Erdoğan demokratisch gewählte Bürgermeister mit dem Vorwurf der Unterstützung des Terrorismus des Amtes enthoben hat und seine Anhänger treuhänderisch mit dem Amt belohnt hat. Dies geschah unter anderem in den großen kurdischen Städten Diyarbakir, Van und Mardin. Doch es scheint, daß sich Erdoğan nun verkalkuliert hat. Er hat die anhaltenden Proteste, die trotz des Versammlungsverbots kein Ende nehmen, nicht erwartet.

Erdoğans Türkei könnte nicht weiter von den europäischen Werten entfernt sein

Hält die rechtslaizistische Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) weiter zu Erdoğans AKP?

Seyder: Die MHP hatte andere Prioritäten. Obwohl sie an der Allianz mit der AKP festhält, war sie die Mitinitiatoren eines Ausgleiches mit den Kurden. Wenn die Kurdenfrage geregelt worden wäre und Öcalan aus der Haft entlassen wäre, wäre ein Bündnis hypothetisch mit der DEM-Parti möglich gewesen. Eine Verfassungsänderung im Sinne Erdoğans wäre im Bereich des Möglichen. Es scheint mir, daß die MHP mit dem Fall İmamoğlu, den Erdoğan initiiert hat, eher unglücklich ist.

Welche Rolle spielt die Kurdenfrage in diesem Zusammenhang?

Seyder: Unter Erdoğan ist das Kurdenproblem und die Gleichsetzung der türkischen Nationalisten mit dem Terrorismus eher ein Instrument geworden, um die Opposition zu diskreditieren.

Kann die Türkei unter diesen Umständen überhaupt als verläßlicher EU- und Nato-Partner gelten?

Seyder: Die Türkei unter Führung von Erdoğan kann nicht ein Partner der EU werden. Innenpolitisch kann die EU die Marginalisierung der demokratischen Opposition nicht hinnehmen. Nahostpolitisch ist die Europäische Union eher für eine friedliche Regelung der chronischen Probleme, während Erdoğan militante Gruppen wie die Islamisten in Syrien und Hamas unterstützt. Ich sehe keine gemeinsamen Nenner. Die Türkei ist ferner denn je von den Idealen der Europäischen Union. Sicherheitspolitisch im globalen Sinne scheint es nicht, daß die Türkei unter Erdoğan die Südflanke der Nato stärken würde. Konflikte mit Griechenland, die Haltung zum Nahostkonflikt und zur russischen Politik zeigen enorme Differenzen; ganz abgesehen von den Problemen mit der Haltung der Türkei zur Nato als einer Wertegemeinschaft.

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Politikwissenschaftler Ferhad Seyder äußert sich über Erdogan
Politikwissenschaftler Ferhad Seyder. Foto: Seyder

Prof. Dr. Ferhad Seyder, 1950 im an der türkischen Grenze gelegenen und von Kurden bewohnten Amude geboren, kam 1974 nach Deutschland und studierte Politikwissenschaft und Geschichte an der FU Berlin. 1987–1999 Assistenzprofessor an der FU Berlin, ab 2000 Dozent an der Universität Erfurt. 2012 bis 2019 Leiter der Kurdischen Studien an der Uni Erfurt; 2004 bis 2011 Dozent beim DAAD in Amman, Gastprofessuren an deutschen und nahöstlichen Universitäten. Zahlreiche Publikationen zur Politik und Geschichte des Mittleren Ostens.

Proteste am 29. März 2025 gegen die Inhaftierung des Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem Imamoglu, dem wichtigsten Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Foto picture alliance, NurPhoto, Francesco Militello Mirto
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