Wochenlang tuschelte der politisch interessierte Fußballfan. Was machen sie dieses Mal? Hinknien gegen Rassismus? Den Mund zu halten gegen Homophobie? Und welcher Regierungspolitiker hält es nicht aus, daß die Welt größer ist als Mitteleuropa? Wer findet diese Vorstellung dermaßen unerträglich, daß er sich zu irgend etwas hinreißen läßt? Und zu was genau? Zu einer häßlichen Armbinde? Zum spontanen Weinkrampf gegen Intoleranz? Wie sehr wird der Durchschnittsbürger am Bildschirm dieses Mal wieder mit wokem Unsinn belästigt?
„Und es folgt die deutsche Hymne: Einigkeit und Recht und Freiheit – und vor allem Vielfalt.“ So kommentiert ZDF-Kommentator Oliver Schmidt vorm Turnierstart unsere Hymne. Das kann ja was werden. Wenige Tage zuvor war erneut eine Debatte um Abwehrchef Antonio Rüdiger entbrannt, weil der Wahl-Madrilene gerne in islamischen Gewändern posiert und dabei den Zeigefinger hebt. Metaphorisch und wortwörtlich.
Tauhid-Finger plus Allahu Akbar. Er weiß, was er tut und was für Signale er sendet. Und er provoziert weiter.
Rüdiger gestern beim Champions League Viertelfinale von Real Madrid gegen Manchester City pic.twitter.com/3syegtzdAU
— Anabel Schunke (@ainyrockstar) April 18, 2024
Daß dieses Handzeichen in der islamischen Welt die Einzigartigkeit Gottes repräsentiert und mit Nichten nur von Terroristen verwendet wird, ist dabei zweitrangig. Die Menschen wollen sich aufregen, außerdem ist Rüdiger in Sachen öffentliche Bekenntnisse ein Wiederholungstäter. Die gesamte Debatte ist verfahren. Sinnbildlich für ein Land, in dem Jahr für Jahr mehr Menschen angeben, ihre aufrichtige Meinung nicht mehr öffentlich äußern zu können.
Wirtz und Musiala überragend
Eigentlich ist am Freitag also alles angerichtet für eine schlimme Blamage. Wir kennen es seit Jahren nicht anders. Zwischenzeitlich findet die Polizei in Berlin ein herrenloses Gepäckstück in der Nähe der Fanmeile und vermutet Gefahr für Leib und Leben – bis es Entwarnung gibt.
Aber am Freitag ist alles anders. Die Mannschaft ist von Beginn an heiß, sie brennt regelrecht. Wunderknabe Florian Wirtz hält beim ersten Ballkontakt in der Nähe des schottischen Tors einfach mal rauf – zack, eins zu null. Keine zehn Minuten später macht sein nicht minder begabter Offensivprotegé Jamal Musiala das Gleiche – zwei null. Das Publikum in der Münchner Allianz Arena ist begeistert. Kurz vorm Pausenpfiff trifft Kai Haverzt vom Punkt gegen inzwischen dezimierte Schotten zum drei zu null. „Oooh, wie ist das schön“, schallt es durch den Münchener Nachthimmel. Fünf zu eins heißt es am Ende.
Insgesamt fühlt sich das Spiel angenehm normal an. Der viermalige Weltmeister Deutschland läßt einen Fußballzwerg wie Schottland zu keiner Sekunde des Spiels auch nur vorsichtig glauben, hier und heute irgend etwas Zählbares mitnehmen zu können. Jeder deutsche Ballverlust wird mit entschlossenem Gegenpressing beantwortet. Rückkehrer Toni Kroos ist die personifizierte deutsche Verläßlichkeit, gefühlt spielt er nicht einen Fehlpaß. Auch die Joker Füllkrug und Can treffen. Wirtz und Musiala? Sowieso von einem anderen Stern.
„Dieses Deutschland macht Angst“
Ein Hauch von Sommermärchen weht durchs Land, wenn selbst in Berlin-Prenzlauer Berg – dem Epizentrum des selbsthassenden Bionade-Grünbürgertums – Menschen in Schwarz-Rot-Gold durch die Straßen ziehen. Wir sind wieder wer. Die italienische Zeitung Gazzetta dello Sport sagt: „Dieses Deutschland macht Angst.“ Mama Mia!
Es kann so einfach sein. Einfach mal nicht über Politik reden. Einfach mal Fußball spielen. Beziehungsweise gucken.
Millionen von Menschen am Bildschirm hören kurz auf, sich zu streiten, woran Deutschland am schnellsten zu Grunde gehen wird. Am Klima? An der unkontrollierten Einwanderung? An Massenarbeitslosigkeit dank KI? Wenn der Ball rollt, wird alles andere zur Nebensache. Und so, wie der Ball gestern rollte, könnte es ein langes Turnier werden. Hoffen wir es. Unser Land hat ein bißchen Ablenkung definitiv verdient.