Die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) strebt durch eine Bundesratsinitiative an, daß Opfer schwerer sexueller Gewalt zukünftig nur durch den Richter vernommen werden sollen. Was als Opferschutz vor belastenden Zeugenvernehmungen verkauft wird, könnte einen Bruch mit dem Rechtsstaat zur Folge haben.
Auf den ersten Blick klingt ihr Vorschlag sinnvoll. So sollen Menschen, die Opfer einer schweren sexuellen Gewalttat geworden sind, nicht durch ihre Zeugenvernehmung „retraumatisiert“ werden. Für minderjährige Zeugen gibt es bereits eine entsprechende Regelung, wonach nur der Richter Zeugen unter 18 Jahren befragen darf.
Bei genauer Betrachtung des Vorschlags zeigt sich aber, daß Kritik an Gallina, die als Nicht-Juristin ausgerechnet Justizsenatorin wurde, durchaus berechtigt ist. Ihr gut gemeinter Vorschlag läßt die grundlegenden Prinzipien des Rechtsstaates und des Strafverfahrens außer acht.
Fehlentscheidungen haben dramatische Folgen für Angeklagte
Einigkeit herrscht darüber, daß ein Zeuge im Strafverfahren nicht zum Spielball der Beteiligten werden soll. So haben Zeugen Rechte, deren Schutz Aufgabe des Rechtsstaats ist. Jedoch verkennt Gallinas Vorschlag, daß ein Strafprozeß der Aufklärung dienen soll. Staatsanwälte und Strafverteidiger, die keine direkten Fragen an die Zeugen richten können, sind in Ihrem Fragerecht eingeschränkt. Das Recht auf ein faires Verfahren für den Angeklagten wird damit beschnitten.
Die Ergebnisse, die aus einer direkten Befragung gewonnen werden können, sind von erheblicher Bedeutung. So kann durch Mimik und Gestik etwa auf die Glaubwürdigkeit des Zeugen geschlossen werden. Der Tonfall und Sprachfluß eines Zeugen können Unsicherheiten in der Aussage aufdecken, die bei näherem Nachfragen die gesamte Situation in einem anderen Licht erscheinen lassen können.
Gerade in Fällen des sexuellen Mißbrauchs kommt es auf jedes Detail an. Man mag sich nicht ausdenken, welchen Einfluß eine Fehlentscheidung auf das Leben des Angeklagten haben kann.
Gallinas Vorstoß offenbart gefährlichen Trend
Nun mit dem Schlagwort der „sekundären Viktimisierung“ die Ausnahme der Befragung allein durch den Richter zur Regel machen zu wollen, stellt einen gefährlichen Trend dar. Grundsätzlich muß der Angeklagte die Möglichkeit haben, seinem Ankläger gegenüberzustehen.
Wohin könnte das sonst führen? Ist am Ende auch das Opfer einer Kneipenschlägerei zum Schutz vor „sekundärer Viktimisierung“ besser allein zu befragen, obwohl es nach dem fünften Bier die Auseinandersetzung mit einem Schubser begann?
Vielleicht hätte der Justizsenatorin doch ein Jurastudium gutgetan. Zumindest wäre sie dann besser vorbereitet auf den ein oder anderen juristischen Sachverhalt, der ihr in ihrer Karriere begegnet.