Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist ein Kind seiner Zeit und so ganz von ihren Eigenarten geprägt. Wenn er eines Tages aus dem Schloß Bellevue auszieht, wird man ihm dieses Abgangszeugnis ausstellen: „Er war stets bemüht, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen.“ Was für einen normalen Arbeitnehmer vernichtend ist, kann für ein Staatsoberhaupt kein Kompliment bedeuten.
Doch bleiben wir bei der Betrachtung seiner Rede, die er gestern in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem gehalten hat, zunächst beim Positiven. Steinmeier hat seine Trauer bekundet und dann versucht, der Gebetsmühlen-Formel von der „deutschen Verantwortung“ einen Inhalt zu geben: „Wir bekämpfen den Antisemitismus! Wir trotzen dem Gift des Nationalismus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels!“
Neudeutscher Größenwahn
Der Kampf gegen den Antisemitismus ist Konsens in Deutschland, den Schutz jüdischen Lebens eingeschlossen. Das deutsch-israelische Sonderverhältnis ist allgemein anerkannt, was nicht heißt, daß Deutschland sich mit der israelischen Politik identifizieren muß. Der Nationalismus ist allerdings kein deutsches Problem, jedenfalls nicht in der von Steinmeier gemeinten Form. Begriffe wie „französischer Erbfeind“ oder „polnische Wirtschaft“ sind aus dem aktiven Wortschatz verschwunden, und niemand vermißt sie.
Doch der Nationalismus kann sich auch als postnationales Erweckungserlebnis und Sendungsbewußtsein äußern. 1988 verkündete der SPD-Politiker Oskar Lafontaine, aufgrund ihrer Erfahrungen mit einem „pervertierten Nationalismus“ seien die „Deutschen geradezu prädestiniert“, den Nationalstaat zu überwinden und die führende Rolle bei der „supranationalen Vereinigung Europas zu übernehmen“.
Lafontaine beschwor die „felix culpa“, die selige, weil heilsnotwendige Schuld, wobei er sich kühn über die Tatsache hinwegsetzte, daß die anderen Europäer ihre Denationalisierung überhaupt nicht wollten. Dieser neudeutsche Größenwahn, der sich auf angebliche „Lehren aus der deutschen Geschichte“ beruft, brach sich prompt in einem ARD-Kommentar zur Jerusalemer Gedenkveranstaltung Bahn. Es begann mit einem Eigenlob: „Ja, vieles war würdig und überzeugend, und dazu hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beigetragen.“
Die heiße Nah- wird zu einer kalten Fernerinnerung
Eine scharfe Rüge traf Benjamin Netanjahu und Wladimir Putin: „Unwürdig war dagegen, wie Israel und Rußland diesen Gedenktag teilweise kaperten“ und „ihre eigene politische und erinnerungspolitische Privatparty“ feierten. Ein mit Witz begabter Kommentator schrieb im Netz, daß „nur die Deutschen noch zu einem ‚würdigen‘ Holocaust-Gedenken imstande sind, während die Juden alles ruinieren“.
Total banal war Steinmeiers Forderung, es dürfe „keinen Schlußstrich unter das Erinnern geben“. Erinnerung ist die Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem. Die Zeit aber ist ein Fluß, der uns weiterträgt. Ein Großverbrechen wie der Holocaust bleibt ein erratischer Block, der aus den Fluten ragt, was nichts daran ändert, daß der Fluß der Zeit uns von ihm entfernt, so daß aus der „heißen“ Nah- allmählich eine „kalte“ Fernerinnerung wird. So will es das Leben selbst.
Die Versuche, durch Indoktrination eine „heiße“ Vergegenwärtigung künstlich herbeizuführen, führt allenfalls zur Neurose und zur Verfälschung des geschichtlichen Ereignisses selbst. Das wußte schon Friedrich Nietzsche: „Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß derselben zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie.“
Antisemitismus als nationale Exklusivware
Steinmeier ist, wie gesagt, völlig ein Kind seiner Zeit. Nichts in seinem Handeln und in seiner Rhetorik ragt über ihre Denk- und Verhaltensmuster hinaus. Erwartbar waren daher die pauschalen nationalen Selbstanklagen. Er wünsche sich, sagen zu können, die Deutschen hätten für immer aus der Geschichte gelernt. „Aber das kann ich nicht sagen, wenn Haß und Hetze sich ausbreiten. Das kann ich nicht sagen, wenn jüdische Kinder auf dem Schulhof bespuckt werden. Das kann ich nicht sagen, wenn unter dem Deckmantel angeblicher Kritik an israelischer Politik kruder Antisemitismus hervorbricht. Das kann ich nicht sagen, wenn nur eine schwere Holztür verhindert, daß ein Rechtsterrorist an Jom Kippur in einer Synagoge in Halle ein Blutbad anrichtet.“
Ob das Wort „Rechtsterrorist“ den Mörder von Halle treffend und erschöpfend bezeichnet, wäre noch die Frage. Antisemitische Verbrechen gibt es auch in Frankreich, in den USA und anderswo, nur hüten sich deren Repräsentanten, sie im Ausland als nationale Exklusivware zu präsentieren. Außerdem: Wer in Deutschland haßt Juden? Wer hetzt gegen sie? Wer bespuckt jüdische Kinder auf dem Schulhof? Vor diesen naheliegenden Fragen wich der Bundespräsident in metaphysische Gefilde aus.
Er nannte „böse Geister“, die „sich heute in neuem Gewand“ zeigen und „ihr antisemitisches, ihr völkisches, ihr autoritäres Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit“ präsentieren. „Natürlich: Unsere Zeit ist nicht dieselbe Zeit. Es sind nicht dieselben Worte. Es sind nicht dieselben Täter. Aber es ist dasselbe Böse.“
Steinmeier stellt Opposition als Wiedergänger der NS-Verbrecher dar
Im aktuellen Kontext und im Zusammenhang mit seinen früheren Äußerungen kann das nur so verstanden werden: Das deutsche Staatsoberhaupt brandmarkt vor einem internationalen Forum die größte Oppositionspartei und generell die Kritiker der Politik Angela Merkels – die Steinmeier in unterschiedlichen Funktionen mitgetragen hat – als camouflierte Wiedergänger der NS-Verbrecher.
Das ist billig! Das ist bösartig! Das stiftet Unfrieden! Das ist Amtsmißbrauch! Das ist der Mißbrauch einer internationalen Gedenkfeier und von wehrlosen Toten zu innen- und parteipolitischen Zwecken.