Der Pulverdampf über dem Schlachtfeld von Waterloo hatte sich kaum verzogen, der von Blücher und Wellington geschlagene Napoleon befand sich noch gar nicht auf einer gen St. Helena segelnden britischen Fregatte, da kündigte in Köln Ernst Moritz Arndt Anfang Juli 1815 unter dem Titel Der Wächter eine neue Zeitschrift an. Die publizistische Wache, die er damit aufzog, sollte die Volksstimmung in der soeben von französischen Okkupanten befreiten, auf dem Wiener Kongreß Preußen zugesprochenen „rheinischen Mark“ zugunsten des neuen Landesherrn im fernen Berlin beeinflussen.
Insoweit tat der aus seinem Greifswalder Lehramt geschiedene Geschichtsprofessor Arndt, was er seit 1812 unablässig tat. Als er, der „Herold der Freiheit“ und „vielleicht wirksamste deutsche Publizist überhaupt“ (Edith Ennen, 1968), als eine Art Sekretär für Agitation und Propaganda in die Dienste des Freiherrn Karl vom und zum Stein getreten war, der am Zarenhof jene europäische Allianz gegen Frankreich schmiedete, an der Napoleons Gewaltregime über den Kontinent schließlich 1815 endgültig zerbrach.
Inmitten der Wächter-Beiträge, die sich, ganz im Duktus von Arndts Flugschrift „Der Rhein, Teutschlands Strom, aber nicht Teutschlands Gränze“ (1813), überwiegend zeithistorischen und geopolitischen Themen widmen, mutet ein umfangreicher, 1820 auch selbständig veröffentlichter Aufsatz des Herausgebers seltsam deplaziert hat: „Ein Wort über die Pflegung und Erhaltung der Forsten und der Bauern im Sinne einer höheren, das heißt menschlichen Gesetzgebung“.
Beängstigend an Aktualität gewonnen
Nur die darin bezogenen agrarpolitischen Positionen fanden in der Arndt-Rezeption sporadisch Beachtung, nicht jedoch die Ausführungen zum Natur- und Umweltschutz. Erst der Germanist Jost Hermand erkannte die Bedeutung, die ihnen in der Geschichte ökologischer Ideen zukommt („Grüne Utopien in Deutschland“, Frankfurt/Main 1992).
Wenn es heute in den finsteren Zeiten der bundesdeutschen „Energiewende“ in Mode gekommen ist, selbst Urwälder wie den nordhessischen Reinhardswald, den „Märchenwald“ der Brüder Grimm, für Hekatomben von Vögeln, Fledermäusen und Insekten vernichtende Windräder zu opfern, dann hat Arndts Klagelied aus der Epoche der Frühindustrialisierung in den letzten 200 Jahren wohl stetig an beängstigender Aktualität gewonnen:
„In manchen Landschaften Deutschlands hat man in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren sehen können, wie der heilloseste und ruchloseste Unfug mit edlen Bäumen und Wäldern getrieben ist und ganze Forsten ausgehauen und ganze Bezirke entblößt sind, weil der einzelne Besitzer mit der Natur auf das willkürlichste schalten und walten kann. Was kümmert es den, der Geld bedarf und in zehn Jahren zu verbrauchen gedenkt, wovon sein Urenkel noch zehren sollte, ob er eine öde und Menschen künftig wenig erfreuliche, ja Menschen kaum brauchbare Erde hinterläßt?“
Voller Wut auf diese Zustände, so kommentiert Hermand eine solche wuchtige, gegen die kapitalistische Pleonexie, die Unersättlichkeit des Mehr-haben-Wollens gerichtete Attacke, habe der in der wildromantischen Natur Rügens aufgewachsene Bauernsohn Arndt sein Zeitalter das „saturnische“ genannt, weil es in „‘bodenloser Unmäßigkeit und Gierigkeit sich selbst verschlinge und auffresse’“, gleich dem Titanen der antiken Mythologie, der seine Kinder verspeiste.
Zeitiges Eintreten für Naturschutzbelange
Mühelos schlägt Hermand den Bogen von hier aus zu Arndts Hausgott Goethe. Zu dessen der seinen kongenialen, zu Ehrfurcht und „Weltfrömmigkeit“ erziehender Naturanschauung, die dem ruhelosen, auf Beherrschung und Ausbeutung von Natur und Mensch fixierten „Geschäftsgeist der modernen Welt“ diametral entgegenlaufe. Wenig erstaunt folglich, daß Arndt mit Alexander von Humboldt und dem Fürsten Pückler, der in Muskau und Branitz musterhafte Landschaftparks anlegte, 1825 zu den Gründern des „Vereins zur Beförderung des Gartenbaus in den preußischen Staaten“ gehörte.
Arndts so zeitiges Eintreten für Naturschutzbelange ist alles andere als lediglich ein Schnörkel an dem sich über neun Jahrzehnte erstreckenden, windungsreichen, von „problematischer Vieldeutigkeit“ (Ennen) zeugenden Lebens- und Denkweg eines Mannes, der am 26. Dezember 1769 auf dem noch zu Schwedisch-Pommern gehörenden „lieblichen Eiland“ Rügen, im Gutshaus zu Schoritz, als Sohn eines sich erst wenige Monate seiner Freiheit erfreuenden Leibeigenen geboren wurde, und der zuletzt als zum Denkmal seiner selbst etwas erstarrte Wahlpreuße, als „Liebling der Nation“ (Gustav Freytag), am 29. Januar 1860 in Bonn am Rhein „friedlich entschlummerte“.
Vielmehr ist seine bis ins erste Mannesalter pantheistisch unterfütterte Natur- und Heimatliebe fester Bestandteil seines auf Volk, Nation, Gott gegründeten Welt- und Menschenbildes, seiner „Vaterlandsreligion“. Denn anders als es die jüngere Nationalismus-Forschung unermüdlich behauptet, entwickelte sich das deutsche Nationalbewußtsein während der napoleonischen Kriege nicht primär aus die Identität stiftender Selbstwahrnehmung des Kollektivs und aus abgrenzender Fremdwahrnehmung, aus zu „Fremdenhaß“ aufputschenden „Feindbildern“.
Revolution von oben
Für Preußens Beamten-, Offiziers- und Bildungselite, die Macher der seit 1807 ins Werk gesetzten Stein-Hardenbergschen Reformen, war der durch das auspressende Besatzungsregime ohnehin automatisch entfachte „Franzosenhaß“ nur Mittel zu einem Zweck, auf den der Reichsfreiherr vom und zum Stein, seit 1804 für Steuer- und Handelsfragen zuständig, bereits vor dem Untergang des friderizianischen Preußens in der militärischen Katastrophe von Jena und Auerstedt hinarbeitete: den absolutistischen Untertanenstaat sollte die Bürgernation ablösen.
Dazu sei, wie es im Programm der Reform, seiner Nassauer Denkschrift von 1807 hieß, dem bisherigen Untertanen rechtlicher Freiraum zu gewähren zur „Teilnahme und Mitwirkung bei den Nationalangelegenheiten“, die nicht zu haben seien ohne „Belebung des Gemeingeistes und Bürgersinns“. Das kündigte mehr als eine Reform an, das lief auf eine Revolution von oben hinaus.
Dabei wies der Steinsche Selbstverwaltungsgedanke, von Humboldt in der Universitäts- und Bildungsreform, von Scharnhorst und Gneisenau umgesetzt für die Neuschöpfung des „Volksheeres“, das auf allgemeiner Wehrpflicht beruhte, zwar Ähnlichkeiten mit den französischen Ideen von 1789 auf. Aber mit seinem „genossenschaftlichen“ Ansatz „gebundener Freiheit“, der den Bürger zum „gemeinnützigen“ Individuum, zum Mitglied einer ethnisch, historisch und kulturell verbundenen Solidargemeinschaft erziehen sollte, stand Stein konträr zum liberalen Atomismus der für jedermann geöffneten, konstitutionellen Weltbürgerrepublik jenseits des Rheins.
Was gerade bei Arndt, der mit „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ durchaus sympathisierte, nachzulesen ist. Zuerst in der sechsbändigen Schilderung seiner 1798/99 unternommenen Wanderfahrt von Greifswald über Wien und Florenz, die ihn schließlich nach Paris führte, wo er die postrevolutionären Verhältnisse unter der Ägide eines großbürgerlich-kapitalistischen Direktoriums, dessen Armeen unter Napoleons Befehl damals glücklos in Ägypten operierten, aus der Nähe studierte.
Menschenrechte als Deckmantel der Plünderungsökonomie
Da Arndts nie systematisch entfaltete politische Philosophie Gesellschaftsordnungen eher intuitiv nach dem „geistigen Kern des Menschentums“ als dem „Geburtsgrund allen staatlichen Lebens“ beurteilte (Rudolf Fahrner, 1937), attestierte er den Franzosen, 1789 zwar das Äußere umgestürzt, ihre „innere Natur“ jedoch nicht erneuert zu haben.
Seitdem käme vielmehr ihr materialistisches Wesen zu sich selbst und entfalte sich mit jener brutalen Hemmungslosigkeit, die sie prädestiniere zu prototypischen Vollstreckern des liberal-kapitalistischen Erwerbstriebs. In ihrer kosmopolitischen Rhetorik, von „Menschheit“ und „Menschenrechten“ tönend, hörte Arndt daher schnell den „Geist der Eroberung“ heraus, wie er dann Napoleons Angriffskriege befeuerte. „Nach neuem Völkerrechte plünderte man Nationen, um sie frei zu machen, und machte sie frei, um sie zu plündern.“
Im Reisebericht von 1802 wie in den späteren Kampfschriften, deren Produktion 1806 mit der kulturkritischen Essaysammlung „Geist der Zeit“ einsetzte, erkennt Arndt den Universalismus der Menschenrechte als Deckmantel der universalisierten kapitalistischen Plünderungsökonomie. Die auf grenzenlose Naturzerstörung genauso ausgeht, wie ihre Gewalt sich jede Gesellschaft „warenförmig“ unterwirft und jede menschliche Beziehung auf „bare Zahlung“ (Karl Marx) reduziert. Die, wie Arndt anprangert, „alle Völker und Länder zu einem großen Schutthaufen, ja Misthaufen der Knechtschaft macht“.
Völkerindividualität und „Volksgeister“
„Entgötterung der Natur“ gehe dabei notwendig einher mit „Entmenschung des Menschen“. Auf dieses „Vernichten und Entgöttern“ antwortet Arndts mit Völkerindividualitäten und „Volksgeistern“ kalkulierende Geschichtsmetaphysik. Sie lehrt Nachhaltigkeit im Politischen wie im Ökonomischen, weil sie dem Selbstentfaltungsdrang im Inneren wie dem Expansionstrieb nach außen enge Grenzen steckt. Fortschritt und Wachstum haben sich an natürlichen und humanen Möglichkeiten zu orientieren. Krieg, für Arndt „das größte Übel“, eine zu vermeidende „fürchterliche Erschütterung und Umkehrung des menschlichen Lebens“, ist ausschließlich als Verteidigungskrieg erlaubt.
Dem jungen Friedrich Engels, der mit Karl Marx in seiner Verachtung für das bourgeoise Frankreich Arndt nicht nachstand, hat diese Weltauffassung des seit 1819 als „Demagogen“ verfolgten Vorkämpfers der deutschen Freiheit und Einheit imponiert. Trotz der monierten „Deutschtümelei“. Auch der nachmals mit posthumem Weltruhm bedeckte assimilierte Jude Victor Klemperer erwies dem „alten Arndt“ zum 50. Todestag die Ehre, um ihn als Kronzeugen gegen das moderne, aller Hingabe an ein Allgemeines unfähige und seelisch verarmte Ich zu bemühen.
Unbekümmert um die viele ähnliche Überraschungen bergende Arndt-Rezeption blieb es 2018 den zumeist aus dem Westen zugezogenen akademischen Multiplikatoren der One-World-Ideologie des globalisierten, völker- und demokratiefeindlichen „Geschäftsgeists“ vorbehalten, sich konsequent von Ernst Moritz Arndt als Namenspatron der Greifswalder Universität zu trennen.
JF 52/19