Die dramatischen Ereignisse der letzten Tage, der amerikanische Abzug aus Nord- und Ostsyrien (kurdisch: Rojava), der darauffolgende Angriff der Türkei mit der Absicht, den Landesstreifen entlang der Grenze zu Syrien zur Sicherheitszone zu erklären, gehören zu den Überraschungen, die wir im syrischen Bürgerkrieg erlebt haben. Der türkische „Drang nach Süden“ wurde kurz nach dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs spürbar. Mit der Invasion in der Region Afrin Anfang 2018 nahm dieser Drang eine konkrete Form an.
Zwei Faktoren ließen Erdogan in der ersten Phase des syrischen Bürgerkriegs sein Ziel nicht erreichen. Zum einen die angespannten Beziehungen zu Rußland, das zu den Kurden noch einen Verbindungskanal offenhalten wollte. Zum anderen diejenigen, die im Krieg gegen den Islamischen Staat die Kurden als kostengünstige Infanterie entdeckt haben. Tatsächlich waren die Kurden seit diesem Zeitpunkt die Partner der USA im Kampf gegen den IS. Allerdings war diese pragmatische Partnerschaft keine privilegierte politische und strategische Allianz.
Die USA versuchten zunächst, über Jordanien arabische Milizen als Verbündete zu rekrutieren. Dies war kein voller Erfolg, denn die vermeintlichen Verbündeten wechselten schnell die Seite und erklärten ihre Loyalität zur Al-Nusra-Front, also dem Al-Qaida-Ableger in Syrien. Die Verbindungen der USA mit dem Nato-Land Türkei blieben stabil. Die USA wollten, im Hinblick auf die Annährung der Türkei an Rußland, das Verhältnis nicht weiter strapazieren. Als die Türkei die Invasion in Afrin zielstrebig vorbereitete, ließ Präsident Trump sie gewähren, mit dem Argument, Afrin gehöre nicht zu den Territorien, in denen die USA gemeinsam mit den Kurden operieren (Ost-Euphrat).
Vorbereitungen dauerten schon länger an
Erdogan begnügte sich aber nicht mit Afrin. Sein erklärtes Ziel war die Errichtung einer Sicherheitszone bis zur irakischen Grenze. Diese Zone umfaßte fast alle kurdischen Siedlungsgebiete in Syrien. Das Argument war stets die angebliche Terrorismusgefahr, die vom dort herrschenden PKK-Ableger ausgehe. Dabei konnte die Türkei zu keiner Zeit belegen, daß auch nur ein einziger Schuß aus dieser syrisch-kurdischen Region abgefeuert wurde oder daß terroristische Gruppen von dort aus Ziele auf dem türkischen Territorium angriffen. Überraschend erklärte Trump Ende 2018, daß die USA ihre Streitkräfte aus Syrien abziehen würden, weil sie den IS in Syrien besiegt hätten.
Differenzen innerhalb der Administration führten zur Vertagung der Entscheidung. Am 6. Oktober haben die USA nun ihre Streitkräfte teilweise aus der Grenzregion zur Türkei abgezogen. Die Türkei hat seit dem Frühjahr ihre Truppen entlang der Grenze zu Syrien aufgestockt. Hand in Hand mit dem amerikanischen Abzug begann die Türkei, die Stellungen der Syrischen Demokratischen Kräfte anzugreifen, deren Hauptkraft die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) sind. Die militärischen Ziele wurden ausgeweitet. Die Infrastruktur der Region wurde massiv angegriffen.
In einer Zickzackstrategie versucht Trump teilweise mit bizarren Begründungen den Abzug seiner Soldaten zu erklären. Er hat wahrscheinlich die politischen und strategischen Komplikationen und Konsequenzen der türkischen Invasion falsch eingeschätzt. Zum einen kann der Einmarsch die Bedeutung des kurdischen Faktors relativieren. Die kurdische Region wird, so die Pläne der Türkei, durch die sunnitisch-arabischen Islamisten besiedelt werden. Die Kurden werden schon jetzt gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und in entfernte Gebiete im Süden zu flüchten.
IS könnte Wiedererstarken
Der Islamische Staat kann sich nach der Schwächung der Kurden reorganisieren. Und nicht zuletzt hat die syrische Regierung nun die Möglichkeit, ihr Einflußgebiet im Nordosten auszudehnen. Tatsächlich ist die syrische Armee nach dem Vertrag vom 13. Oktober mit den Syrischen Demokratischen Kräften Richtung Nordosten einmarschiert. Ob Assad die türkische Invasion stoppen kann und später mit den Kurden eine friedliche Lösung akzeptieren wird, ist fraglich. Schon jetzt reden die syrischen Massenmedien von den „verräterischen“ Syrischen Demokratischen Kräften, die die Handlager der USA gewesen seien.
Das Ausschalten des kurdischen Faktors bleibt somit nicht ohne politische und strategische Konsequenzen. Die geringste wäre die Flucht oder die Freilassung von vielen Tausenden IS-Anhängern, die in den Gefängnissen und Lagern der Syrischen Demokratischen Kräfte eingesperrt waren. Trump argumentiert immer wieder damit, die USA seien nicht bereit, die Probleme der Region des Nahen Osten zu lösen; zumal die USA 7.000 Kilometer weit von dieser Region entfernt sind.
Dies wäre also die Aufgabe der EU-Länder. Abgesehen davon, daß die USA wiederholt Kriege geführt haben, um die Sicherheit der Völker der Region zu gewährleisten, sind die EU-Staaten von der Instabilität, die die türkische Invasion verursachen wird, betroffen.
Neue Flüchtlingsströme drohen
Die Gefahr eines Wiedererstarkens des Islamischen Staats bedroht die Sicherheit der EU-Länder direkt, zumal viele gefangene IS-Terroristen aus europäischen Staaten stammen. Zum anderen wird die Instabilität neue Flüchtlingsströme verursachen. Dies wiederum wird kurz oder lang ein europäisches Problem.
Die EU verfügt aber anders als die USA über keine militärisch glaubhaften Instrumentarien, um zum Beispiel die US-Truppen in der Krisenregion abzulösen und die Region zu stabilisieren. Zudem signalisieren einige EU-Staaten wie Spanien und Ungarn ihre Zustimmung zu der türkischen Invasion. Die Mahnung der deutschen Kanzlerin an die Türkei, sofort die militärischen Operationen zu beenden, ist zwar richtig.
Die Bundesrepublik Deutschland und auch Frankreich zeigen, daß sie sich mindestens verbal von Erdogans Drohung, die Flüchtlinge nach Europa zu schicken, nicht erpressen lassen. Die EU kann aber nicht Truppen nach Syrien entsenden, um eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Einmal mehr muß festgestellt werden, daß, wer seinen Wehretat so drastisch reduziert, ein Instrument der Außenpolitik aus der Hand gibt. Eine humanitäre Politik ohne robuste Instrumente ist eine Farce.
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Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder, kurdischstämmiger Politologe, lehrt nach Stationen unter anderem in Kairo, Stockholm und Berlin an der Universität Erfurt.