Ganz in Schwarz gekleidet, verkündete Kaiser Karl V. am 25. Oktober 1555 im Großen Saal des Brüsseler Schlosses seine feierliche Entscheidung. Es war derselbe Saal, in dem er 40 Jahre zuvor für mündig erklärt worden war. Den zahlreich erschienenen Familienmitgliedern sowie den Angehörigen des deutschen und spanischen Hochadels erklärte Karl seine Abdankung als Monarch. Ehe die Anwesenden sich von ihrer Verblüffung erholt hatten, legte der 55jährige die Regentschaft der Spanischen Niederlande (heute Belgien) in die Hände seines Sohnes Philipp, trat ihm darüber hinaus Spanien, Sizilien und Mailand ab. Die deutsche Königs- und Kaiserkrone sollte künftig sein jüngerer Bruder Ferdinand tragen.
Jener Mann, der einst sagte, daß in seinem Weltreich die Sonne nicht untergehe und der als ehrgeiziges Lebensmotto „Plus ultra“ (immer mehr, immer weiter) gewählt hatte, mußte sein Scheitern eingestehen. Als Enkel des Habsburgers Maximilian I. war er vor 500 Jahren am 28. Juni 1519 zu Frankfurt am Main zum römisch-deutschen König erwählt worden. Der 19jährige hatte sich die Krone von den deutsche Kurfürsten regelrecht erkaufen müssen; dabei flossen insgesamt 852.000 Gulden in deren Taschen (nach heutigem Wert etwa 1,2 Tonnen Feingold), eine Schuldenlast, die ihn zeitlebens drückte, denn das Geld hatten Kaufleute wie die Fugger vorgestreckt.
Den junge Monarchen prägten zwei Ereignisse entscheidend: Luthers Reformation und die Eroberung Amerikas. Von seinem Vater Philipp dem Schönen hatte er 1516 auch die spanische Königskrone geerbt und Spanien wurde schnell zur führenden Kolonialmacht. Die märchenhaften Reichtümer Süd- und Mittelamerikas flossen nach Madrid. Sie ermöglichten erst spät die Finanzierung von Karls Kriegszügen. Doch was trieb ihn wirklich an? Historiker interpretieren es ganz unterschiedlich: Verfolgte der Kaiser vor allem dynastische Ziele oder strebte er eine erneuerte Universalmonarchie an? Trotz zahlreicher überlieferter Dokumente bleibt das Bild seiner Persönlichkeit verschwommen und höchst widersprüchlich.
Es ging Karl um die Einheit des Christentums
Zunächst blieb Karl ständig bemüht, die konfessionellen Gegensätze zu überbrücken. Lange war er sich nicht im Klaren, welchen Weg er einschlagen solle. Es war ein Schwanken zwischen direkter militärischer Unterwerfung der Protestanten und der Suche nach friedlicher Einigung. 1541 zeichnete sich sein Kurs dann deutlich ab. Auf dem Reichstag zu Regensburg schloß er Bündnisse mit den protestantischen Herrschern von Hessen und Brandenburg, wodurch das gegnerische Lager erheblich geschwächt wurde. Dem folgte der fulminante Sieg in der Schlacht bei Mühlberg im April 1547, wo Karl trotz seiner Gebrechen 31 Stunden in voller Rüstung ununterbrochen im Sattel saß.
Danach ging er von seiner Grundidee des Kaisertums – Sicherung des Friedens und Einheit des Christentums – nicht mehr ab. Wobei es Letzteres gegen innere Feinde (Ketzer) und äußere (Nichtchristen) zu verteidigen galt. Sein Wille sei, so ließ man verbreiten, „nicht, daß man viele Herren, sondern allein einen habe, wie des Reiches Herkommen ist“. Was freilich angesichts der erstarkenden Macht deutscher Territorialfürsten Wunschdenken war. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß Karl 1530 vom Papst offiziell zum Kaiser gekrönt wurde.
Nach außen war die Reichspolitik vor allem von der Aggressionswut Frankreichs geprägt. Viermal griff König Franz I. zu den Waffen, viermal wurde er nach schweren Kämpfen besiegt, obwohl er sich zuletzt sogar mit den Türken verbündete. Ständig mußte Karl deswegen durch die Welt reisen, selbst als ihn schon schwere Gichtanfällen plagten. Seine eindrucksvolle Reisebilanz umfaßte folgende Aufenthalte und Routen: Er war neunmal in Deutschland, sechsmal in Spanien, zehnmal in Flandern, siebenmal in Italien, viermal in Frankreich, je zweimal in England und Afrika; achtmal durchquerte er das Mittelmeer.
Der Kaiser war kein Asket
Doch ihn rief nicht nur die Pflicht. Lange Jahre trat Karl als begeisterter Besucher von Turnierkämpfen, von üppigen Gastmählern und öffentlichen Zurschaustellungen hervor. Trotz einer durchaus harmonischen Ehe mit der bildhübschen Prinzessin Isabella von Portugal, stellte er gern den Frauen nach. Zwei uneheliche Kinder (Margarethe von Parma und Juan d’Austria) sind sicher bezeugt. „Der strenge, grüblerische, in sich gekehrte Asket, wie ihn manche Zeitgenossen auch sehen wollen, ist Karl offenbar nicht gewesen“, so seine Biografin Sigrid Looß.
Deutschland verdankte dem unbeliebten Kaiser mit der „Constitutio Criminalis Carolina“ von 1532 das erste einheitliche Strafgesetzbuch. Das mittelalterliche Fehdeunwesen wurde gänzlich eingedämmt und der ständige Reichstag ermöglichte Maßnahmen zur friedlichen Lösung von Konflikten innerhalb des Reiches. Sechs Sprachen beherrschte der infolge einer Mißbildung des Unterkiefers schwer gehemmte Karl V., davon Deutsch am weitaus schlechtesten. Doch schon auf dem Wormser Reichstag 1521 erklärte er: „Ihr wißt, ich stamme ab von den allerchristlichsten Kaisern der edlen deutschen Nation.“ Und in seiner Abschiedsrede sprach er von „Deutschland, mein teures Vaterland“.
Seine freiwillige Abdankung, ein einmaliger Vorgang in der Kaisergeschichte, beweist, daß dieser Habsburger über ein erhebliches Maß an selbstkritischem Denken verfügte. Der später heiliggesprochene Ignatius von Loyola, Gründer des Jesuitenordens, schrieb weiland: „Der Kaiser gibt seinen Nachfolgern ein seltenes Vorbild. Denn während andere gern ihr Leben verlängern würden, um sich an der Staatsgewalt zu erlaben, gibt er sie schon zu Lebzeiten auf. Er erweist sich damit als wahrhaft christlicher Fürst.“