„Es gibt politische Traditionen in Familien. Entsprechend ist die Wahrscheinlichkeit höher, daß Kinder politisch ähnlich ticken, wenn ihre Eltern rechtes Denken pflegen.“ Der Münchener Professor für Wirtschaftsgeschichte, Davide Cantoni, leitet so eine These ein, die im plakativen Artikel der Zeit den Titel einnimmt: „Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD.“ Cantonis wissenschaftliches Ziel ist es, herauszufinden „ob sich politische Einstellungen, die Menschen schon in den Dreißigerjahren hatten, bis heute erhalten haben“. Sein Befund: „Wo die NSDAP erfolgreich war, ist es heute die AfD.“
Cantonis Studie umfasst 85 Seiten und steht online in englischer Sprache zur Verfügung. Dort steht als Kernthese, daß ein kulturelles Fortdauern („long-run cultural persistance“) rechter Ideologie eine Erklärungsmöglichkeit der heutigen Herausforderung durch Rechtspopulismus sei. Ist die AfD demnach eine logische Erscheinung des immer noch nicht ganz zurückgedrängten braunen Geistes, der endlich aus der Flasche kommt?
März-Wahl verfälscht Gesamtergebnis
Bereits im Zeit-Artikel stellt Cantoni die statistischen Quellen in den Vordergrund die Studie basiert auf den Reichstagswahlen von 1928, 1930 und 1933. Das macht aufmerksam: ausgerechnet die Märzwahlen von 1933, die bereits unter dem Vorzeichen der Diktatur standen? SA-Leute patrouillierten als Hilfspolizisten in den Straßen, kommunistische und sozialdemokratische Kandidaten saßen in „Schutzhaft“, den Rechtsstaat hatte die Reichstagsbrandverordnung kaltgestellt. Das Klima der Angst schüchterte dabei nicht nur ein – gerade in dieser Situation witterten auch die Opportunisten Morgenwind und profilierten sich als überzeugte Nationalsozialisten.
In diesem Sinne wären die Wahlergebnisse von 1928 und 1930 weitaus zielführender gewesen. Nicht nur, daß es sich dabei um freie Wahlen in der Weimarer Republik handelte; im Grundsatz zeigten diese Wahlen bereits von Anfang an, wo die nationalsozialistische Ideologie auf fruchtbaren Boden stieß. Das gilt insbesondere für die Wahl von 1928, bei der die NSDAP auf Reichsebene keine drei Prozent erreichte, obwohl sie in Teilen Holsteins jenseits der 30 Prozent rangierte. Als Vergleichswerte hätten sich dabei die beiden Wahlen von 1932 angeboten.
Das Problem der letzten freien Reichswahlen: Für die kleinen Gemeinden liegen schlicht keine Ergebnisse vor. Das ist ein quellentechnisches Manko. Dieses Manko mit der Wahl von 1933 aufwiegen zu wollen, kann mindestens als kritikwürdig bewertet werden. Cantoni geht aber noch einen Schritt weiter: Er faßt die Wahlen von 1928, 1930 und 1933 in einer einzigen Deutschlandgrafik zusammen und vergleicht diese mit den AfD-Ergebnissen aus den Jahren 2016 und 2017. Eine einzelne Aufstellung der drei Weimarer Jahre hätte nachvollziehbare Ergebnisse reproduziert. So verfälscht aber der März 1933 das Gesamtergebnis – ob gewollt oder ungewollt.
Flanke in der Argumentation
Aber auch bei der Grafik selbst fallen Ungereimtheiten ins Auge. So waren die Bewohner des späteren Schleswig-Holsteins und Niedersachsens besonders NSDAP-affin. Heute dagegen handelt es sich um nahezu AfD-leere Räume. Cantonis Erklärung: die Heimatvertriebenen. Das eröffnet eine Flanke in der Argumentation hinsichtlich der politischen Traditionen in den Familien, denn offensichtlich haben sowohl die Autochthonen wie auch die Flüchtlinge ihr Wahlverhalten verändert (Ostpreußen, Pommern und die Neumark galten als NSDAP-Hochburgen).
Andererseits besitzt gerade Niedersachsen eine Tradition rechter Parteien nach 1945. Mit der konservativen Deutschen Partei (DP), der rechts-monarchistischen Deutschen Konservativen Partei (DKP) und der neonazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP) war das junge Bundesland ein Hort von Parteien rechts der Union. Die SRP als Erbin der NSDAP brachte es bei der niedersächsischen Landtagswahl von 1951 auf stolze 11 Prozent. Den Siegeszug einer neuen nationalsozialistischen Kraft verhinderten nicht die Flüchtlingsströme aus dem Osten, sondern ein Verbot durch das Bundesverfassungsgericht. Die gemäßigten Parteien rechts der CDU verschwanden in den 1960ern.
Eine lohnende Arbeit hinsichtlich der Traditionen eines rechtskonservativen Spektrums, das in Weimarer Zeit DVP und DNVP, nach dem Krieg dafür DP und DKP – oder in Hessen: die NDP (Nationaldemokratische Partei) – wählte, liegt aber nicht im Interesse der Studie. Die Fixpunkte sind einzig und allein die 1930er und das Aufkommen rechter Parteien ab Beginn der 1990er Jahre, als hätte dazwischen ein großes parteienideologisches Vakuum geherrscht.
Weiße Flecken
Die Kartendarstellung ist zudem irreführend, da sie einzelne Gemeinden nur farblich ausweist, wenn es eine Übereinstimmung von AfD- und NSDAP-Ergebnissen gibt. Eine farbliche Gegendarstellung, in welchen Gemeinden der Abstand besonders groß geworden ist, wird unterlassen – alles, was nicht die These der Studie bestätigt, erscheint „weiß“.
Eine an wissenschaftlicher Redlichkeit orientierte Untersuchung hätte gefragt, warum in Thüringen eine Persistenz rechten Gedankengutes zu beobachten ist, jedoch keine Persistenz linken Gedankengutes im benachbarten Sachsen. Das ehemalige rote Sachsen als Weimarer Hochburg der SPD lässt zumindest grundsätzliche Zweifel daran aufkommen, inwiefern es eine traditionelle Weitergabe von Einstellungen aus den 1930er Jahren gibt. Und während weite AfD-Gebiete Sachsens nie braun waren, sind Teile des braunen Badens bis heute keine AfD-Hochburgen. Ebenfalls ließe sich fragen, warum die AfD ausgerechnet mit der NSDAP verglichen wird, und nicht etwa mit der DVP und DNVP.
So bleibt leider nur die Schlußfolgerung, daß das Papier ganz im Sinne der Fragestellung politische Agitation betreibt: Demnach steht nicht nur die AfD in der Nachfolge der NSDAP, sondern vor allem ihre Wähler in der kulturellen Tradition damaliger Wähler des Nationalsozialismus.