Wenn es um die Beförderung des politischen Wandels in Europa geht, haben die Franzosen mit der ersten Runde der Vorwahlen des Präsidentschaftskandidaten der Rechten das Heft des Handelns an sich gerissen. Anteil daran haben sowohl die konservativen Parteipolitiker, die mit der Durchführung offener Vorwahlen über mehr als ihren Schatten gesprungen sind, als auch die Wähler.
Mit der Mehrheit für François Fillon haben sie eine bemerkenswerte Entscheidung getroffen. Der Unterschied zu Deutschland, dem bleiern und alternativlos eine vierte Amtszeit des „Weiter so“ bevorsteht, könnte größer nicht sein. Daß die Zunft der Meinungsforscher am Sonntag eine neue, krachende Niederlage hinnehmen mußte, besitzt kaum noch Aufmerksamkeitswert.
Dem Kontrollverlust anarchisch begegnen
Quer durch die westlichen Demokratien greift die Erkenntnis um sich, von Algorithmen und Statistiken durchleuchtet und verfolgt zu werden – um so stärker der Wille, dem Kontrollverlust immerhin anarchisch zu begegnen. Mit dem Gefühl, belogen zu werden, wächst die Bereitschaft zu lügen. Inzwischen ist es Mode: Man sagt dem Meinungsforscher nicht, wen man zu wählen gedenkt, und man sagt ihm auch nicht, wen man gewählt hat. Man nennt andere Namen, andere Parteien.
An den Vorwahlen durfte jeder Franzose teilnehmen, der auf zwei Euro verzichten konnte und einen Revers mit dem Bekenntnis zur konservativen Mitte und zum konservativen Politikwechsel unterschrieb. Damit stand von vornherein fest, daß auch Wähler jenseits des rechten Spektrums teilnehmen würden, etwa um einen aus ihrer Sicht besonders gefährlichen konservativen Kandidaten zu verhindern.
Parallele zu Clinton
Angesichts einer derartigen Ausgangslage und bei einer Wahlbeteiligung von nur gut zehn Prozent (gemessen an den insgesamt wahlberechtigten Franzosen) sind Wetten auf den Ausgang der Stichwahl zwischen dem Sieger Fillon (44 Prozent) und seinem Verfolger Alain Juppé (28,5 Prozent) reines Glücksspiel.
Einige Aussagen erlaubt der Wahlausgang dennoch. Das von niemandem erwartete schlechte Abschneiden des Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy (20,6 Prozent) erinnert an das Schicksal der US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zehn Tage zuvor. Beide stehen für eine Politik, die vom Stil her und inhaltlich im alten Jahrhundert verwurzelt ist.
Vor allem stehen sie für einen Politikertyp, der jede Glaubwürdigkeit verloren hat. Letztlich sind beide an ihrer postmodernen Routiniertheit gescheitert, Clinton auf der Linken, Sarkozy auf der Rechten. Man nimmt ihnen die schönen Worte, all die Hektik und die vermeintliche Aufopferung einfach nicht mehr ab.
Elitendistanzierung
Auch in der Präferenz für Fillon anstelle des moderateren Juppé liegt ein Element der Elitendistanzierung. Als Ex-Premierminister (2007-12) ist Fillon zwar alles andere als ein Rebell oder Außenseiter. Dennoch verkörpert der in der Provinz verwurzelte Katholik mit seinen klaren, konservativen Ansichten einen Typus, der anders ist als die lackierten Pariser Politfuzzis, näher an der schweigenden Mehrheit, näher am Volk.
Sein wirtschaftsliberaler Kurs unter dem Motto „Von Nichts kommt Nichts“ trifft den Zeitgeist einer von den Versprechungen der linken Politiker nachhaltig enttäuschten Wählerschaft. In Frankreich könnte sich bewahrheiten, was ein deutscher Barockdichter einst so formuliert hat: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Ein solcher Mittelweg wäre Alain Juppé.
Le Pen in die Schranken weisen
Fillon hingegen, und darin liegt für das konservative Europa eine wichtige Botschaft, ist ein Rechter, den keiner je Populist nennen wird. Im Kampf um das traditionelle Bürgertum, das in Frankreich deutlich lebensfähiger ist als beim durchmodernisierten Nachbarn im Osten, hat er alles Zeug dazu, Marine Le Pen in die Schranken verweisen.
Ihre Rolle ist die einer Jeanne d’Arc der kleinen Leute – und die entscheiden, in Frankreich jedenfalls und vorausgesetzt, es steht ihnen ein breites und motiviertes Bürgertum gegenüber, nicht, wer auf dem Präsidententhron landet. Mit einem Präsidenten François Fillon, wenn denn alles so kommt, gewänne der europaweite politische Schwenk nach Rechts über Nacht eine Führerfigur.
Renaissance des Gaullismus tut not
Eine Renaissance des Gaullismus mit seiner Vision von einem Europa der Vaterländer ist genau das, was dem Kontinent angesichts des Kollapses der supranationalen und hyperkapitalistischen Entwürfe not tut. Engländer und Osteuropäer, Iberer, Italiener und Griechen würden eine solche Entwicklung mit Beifall begrüßen.
Deutschland, wo weit und breit kein Fillon in Sicht ist, könnte sich nach den französischen Präsidentschaftswahlen im April und Mai 2017 unversehens wie ein aus dem Bett gefallener Träumer fühlen. Da wähnten wir uns endlich in der Gewißheit, dem Kontinent als wohlwollende Führungsnation vorzustehen – und schwupp, sind wir wieder nur das fünfte Rad am Wagen.