Die Europäische Union ist nicht tot, sie liegt nur auf der Intensivstation. Sie steckt in einer Existenzkrise, die vor sechs Jahren ihren Anfang nahm, als die Währungsunion auseinanderzubrechen drohte, und die sich im Migrationschaos des vergangenen Jahres dramatisch zugespitzt hat. Das im Vertrag von Lissabon gegebene Versprechen, in Europa einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu schaffen, wirkt längst wie blanker Hohn.
Sicher ist das Territorium dieser EU nicht mehr, seitdem das Schengen-Abkommen und die Dublin-Verordnungen, die sich gegenseitig bedingen, unter dem Ansturm der Völkerwanderung hinweggefegt wurden. Weil der Schutz der Außengrenze versagt, werden Zäune an den Binnengrenzen hochgezogen.
Willkürlich Kompetenzen angemaßt
Individuelle und nationale Freiheiten gingen verloren, als unter dem Vorwand der Integration die nationalen Parlamente entmachtet wurden, als sich der Europäische Gerichtshof willkürliche Kompetenzen anmaßte, als das vertraglich garantierte Prinzip der Subsidiarität systematisch ausgehöhlt wurde. Die Zentralisten haben die nationale Souveränität und damit den Kern der Freiheit eingedampft, ohne eine europäische Souveränität an deren Stelle setzen zu können.
Und der Raum des Rechts geriet zur Farce, als die Währungsunion rechtswidrig zur Haftungsunion umfunktioniert wurde, als die Europäische Zentralbank ihr auf Geldpolitik beschränktes Mandat eigenmächtig überschritt, als ausgerechnet die Bundesregierung mit ihrer wahnhaften Willkommenskultur deutsches Asylrecht und europäische Vereinbarungen beiseite wischte.
Erstmals EU-Austritte realistisch
Jetzt wird blitzartig deutlich, daß Supranationalität und eine falsch verstandene Integration an ihre Grenzen gestoßen sind. Es hat sich als Irrtum herausgestellt, die Osteuropäer mit Milliardentransfers aus der Gemeinschaftskasse kaufen und ruhigstellen zu können. Sie beharren auf ihre nationalen Interessen, sie sehen keinen Gewinn in der von Merkel propagierten muslimischen Einwanderung. Und erstmals seit Gründung der EU ist nicht mehr ausgeschlossen, daß die auf 28 angewachsene Zahl der Mitglieder wieder schrumpft.
Falls die Briten am 23. Juni für den Austritt stimmen, könnten mit größerem zeitlichen Abstand andere folgen, vielleicht die Niederlande, vielleicht Dänemark oder Schweden. Den wirklichen Schaden hätte nicht Britannien, sondern die EU und insbesondere Deutschland. Denn ein Brexit schwächt das marktwirtschaftliche und liberale Lager und intensiviert Dirigismus und Umverteilung.
Freihandel in der EU auch ohne EU
In den jüngsten Verhandlungen mit David Cameron wurde die Chance vertan, die Union grundlegend zu reformieren, zu entschlacken und den Zentralismus zurückzudrängen. Errungenschaften wie freier Handel und freier Kapital- und Personenverkehr sind auch ohne teure Finanztransfers und ohne eine Superbürokratie zu haben.
Zum Beispiel in der Europäischen Freihandelszone Efta, die auch Teil des europäischen Binnenmarktes ist. Die immer noch existierende Efta, der auch Großbritannien einmal angehört hat, beschäftigt in ihrem Hauptquartier in Genf und ihren Büros in Brüssel und Luxemburg gerade einmal hundert Mitarbeiter. Der Apparat der EU benötigt an die 50.000.
Wer ist schon stolz auf dieses Europa?
Die von den EU-Eliten kopierte marxistische Vision vom Absterben der Nationen hat sich als Trugbild herausgestellt. Nicht unbedingt in Deutschland, aber doch im Rest Europas gilt die Loyalität der Nation, nicht der Kommission in Brüssel und der Chiffre Europa. Solange europäischer Diskurs und europäische Öffentlichkeit Wunschvorstellungen bleiben, ist Demokratie in der Nation beheimatet. Wer ist denn schon stolz auf dieses Europa?
Und doch wäre es verhängnisvoll, würde die Renaissance des Nationalen den europäischen Zusammenhalt zerstören. Das Problem der EU besteht darin, daß sie fett wurde, anstatt Muskeln anzusetzen, daß sie um so weniger erreichte, je mehr sie haben wollte. Sie hat das Optimum ihrer Nützlichkeit überschritten.
Weg vom selbstzerstörerischen Zentralismus
Die Gemeinschaft kann und muß saniert werden, indem sie zum Recht zurückkehrt, dem selbstzerstörerischen Zentralismus abschwört und den Nationen Raum zum Atmen läßt. Der Anfang wäre gemacht, wenn der Vertrag von Lissabon wieder respektiert wird. Wenn nach dem Subsidiaritätsprinzip nur noch das gemeinsam geregelt wird, was auf nationaler Ebene nicht geregelt werden kann.
Wenn kein Euro-Mitglied mehr für die Schulden eines anderen haftet. Wenn die Europäische Zentralbank davon abläßt, Staatsschulden aufzukaufen und zu monetarisieren. Wenn der Europäische Gerichtshof daran gehindert wird, Europarecht extensiv, willkürlich und rechtswidrig auszulegen.
Europäische Einigung geht an Überdehnung zugrunde
Das europäische Pferd wieder von vorne aufzuzäumen, wäre ein lohnendes Ziel deutscher Politik. Wenn die Regierung Merkel aber der Forderung französischer Sozialisten nach einer Fiskal- und Sozialunion nachgibt, wenn Arbeitslosenversicherung und die Absicherung der Bankkonten auf Kosten Deutschlands vergemeinschaftet werden, wenn der Weg einer europäischen Wirtschaftsregierung mit mehr und mehr Finanztransfers beschritten wird, dann geht die europäische Einigung an Überdehnung zugrunde.
An ihrem Anfang stand das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft. Es scheiterte 1954 in der französischen Nationalversammlung. Es sollte wieder aufgelegt werden. Nichts legitimiert einen Staatenbund überzeugender und nachhaltiger als Wehrhaftigkeit und Sicherheit, nicht zuletzt die der äußeren Grenzen.
JF 10/16
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Dr. Bruno Badulet ist Publizist und Herausgeber des Deutschland-Briefs (erscheint in Eigentümlich frei). Als Journalist war er unter anderem für die Welt tätig.