Wie mit so vielen anderen Fragen in Europa hat der staatstragende Teil der deutschen Historikerzunft auch mit dem geschichtspolitischen Verhältnis zu Italien seine liebe Müh’. Es geht dabei um den üblichen Gegensatz zwischen Fakten und dem gesunden Menschenverstand auf der einen und dem beharrlichen italienischen Nationalismus auf der anderen Seite, der aus den Verlautbarungen der Kollegen südlich der Alpen spricht.
Dort möchte man – was die Weltkriegsära des 20. Jahrhunderts betrifft – ebenfalls gern in einer Mischung aus Sieger- und Opferrolle gesehen werden. Sieger über und doch Opfer von Deutschland.
Nun waren sie aber leider wenig rühmlich, die Winkelzüge, mit denen Italien sich durch die einunddreißig Jahre zwischen 1914 und 1945 zu lavieren versuchte. Zumal wenn man die Voraussetzungen bedenkt: An sich befand sich das Land im frühen zwanzigsten Jahrhundert außenpolitisch in einer komfortablen Lage. Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte man etwa zeitgleich mit dem Deutschen Reich eine fast vollständige nationale Einheit erreichen können.
Italien suchte Nähe zur internationalen Politik
Anders als im Fall Deutschlands hatte das allerdings keine größeren Umwälzungen auf dem Kontinent verursacht. Italien lag geographisch zu weit abseits, um großen Einfluß nehmen zu können. Seine Industrie blieb zu schwach und zu importabhängig, um eine Machtbasis zu bilden oder ein bedrohlicher Konkurrent zu sein, und der Weg zu den Weltmeeren wurde ihm durch britisch-französische Kontrolle an den Mittelmeerausgängen versperrt. Kurz und gut, das Land war allenfalls eine Randerscheinung der größeren Politik, weder eine Bedrohung, noch selbst bedroht.
Darüber konnte man nun betrübt sein, oder die gepflegten Wonnen des neutralen Friedens an sonnigen Gestaden genießen. In Rom entschied man sich, betrübt zu sein. Man suchte die Nähe zur internationalen Politik und fand sie zunächst einmal beim deutsch-österreichischen Zweibund, dem man sich 1882 assoziierte. An sich stellte der Zweibund ein Verteidigungsbündnis gegen Angriffe europäischer Staaten auf die beiden Mittelmächte dar. Italien trat unter allerhand Vorbehalten bei, vorwiegend um seine Expansion in Afrika zu fördern.
Das gelang nur teilweise, und die italienischen Truppen machten in Äthiopien sogar die Erfahrung, als einziges europäisches Heer 1895/96 von den Einheimischen vernichtend besiegt zu werden. So blieb der große Erfolg aus, auch wenn das militärische Selbstvertrauen nicht nachhaltig verloren ging und durch Erfolge über türkisch-osmanische Einheiten in Libyen wieder gestärkt wurde.
Italien setzte aufs alliierte Pferd
Man sah sich nach weiteren Zielen um, schweifte umher und erfand dafür den ambitionierten Begriff des „Interventionismus“. Von den späteren deutschen Kriegsgegnern im Lauf der Jahre freundlich darin bestärkt, daß solche Ziele doch eigentlich ganz in der Nähe zu finden seien, in Österreich-Ungarn beispielsweise, an der gegenüberliegenden Adria-Küste oder in Südtirol, veränderte sich die Perspektive.
Der Stimmungswandel in diese Richtung kam langsam und führte zunächst einmal dazu, daß Italien 1914 trotz des russisch-französischen Angriffs auf die Mittelmächte seine Bündnisverpflichtungen nicht erfüllte, sondern beredte Gründe fand, dies nicht zu tun.
Einen Winter lang ließ man die Dinge reifen und setzte dann aufs alliierte Pferd. Wie stets ließ sich die britisch-französische Politik dies etwas kosten, nämlich das Land anderer Leute. In einem Vertrag erhielt Italien im April 1915 in London das schöne Südtirol versprochen, dazu die heute kroatische Mittelmeerküste, Libyen, Teile der griechischen Inselwelt und der südlichen Türkei. (Für einige Jahre bestand die Möglichkeit, daß deutsche Kleinasienurlauber beim Flug nach Antalya in Italien landen würden.)
Fadenscheinige Vorwände
Da dies schwerlich mit den offiziell verkündeten demokratischen Idealen der Kriegskoalition vereinbar war, wurde es ein Geheimvertrag. (In einem noch geheimeren Vertrag ohne französisches Wissen verkauften die Briten zusätzlich auch das unabhängige Äthiopien an Italien, worauf sich dessen inzwischen faschistische Regierung 1935 bei dessen Eroberung berufen sollte.)
Dann ging alles schnell. Am 3. Mai 1915 kündigte Italien den Dreibund, unter Vorwänden, die zu lächerlich waren, um hier wiederholt zu werden. Am 24. Mai 1915, vor einhundert Jahren, erklärte das Land dann den Krieg an Österreich-Ungarn und trat offiziell in die Weltkriegsära ein, um deren Deutungshoheit noch heute gestritten wird. Die italienische Oberschicht feierte sich für ihren kaltblütigen Verrat, der so sehr den Traditionen und Ambitionen des Landes entspreche und seinem ‘sacro egoismo’.
In Deutschland hatte man all das kommen sehen und doch nichts dagegen tun können. Bald befand man sich mit der halben Welt im Krieg, ohne sie je bedrohen oder angreifen gewollt zu haben. Für Italien und die Geschichte des Dreibundes hatte man wenigstens eine schöne Kurzbeschreibung gefunden. Der Dreibund war demnach eine Kombination gewesen, aus dem Zweibund – und dem Vagabund.