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Schein und Sein – Bildikonen der Geschichte

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In der deutschen Presselandschaft liegen derzeit die Nerven blank. Das zeigen die empörten Versuche, allerorts die Pariser Attentate auf eine Satirezeitschrift mit den Dresdner Pegida-Rufen über eine „Lügenpresse“ in Verbindung zu bringen. Das zeigt die Wahl des L-Worts zum „Unwort des Jahres“. Das zeigt aber auch die heftige Reaktion, als man diese Woche bei einer gar nicht so kleinen Unwahrheit ertappt wurde. Unisono war berichtet worden, die europäischen Staats- und Regierungschefs hätten sich bei der Pariser Demonstration gegen die Pariser Attentate und den Extremismus vom letzten Wochenende „an die Spitze des Demonstrationszugs“ gesetzt. Haben sie aber nicht.

Die Bilder von der demonstrierenden Gruppe mit Kanzlerin Merkel, Präsident Hollande und den anderen europäischen Politgrößen wurden in einer abgesperrten Zone abseits der Veranstaltung aufgenommen. Die Spitze des Demonstrationszugs haben die Damen und Herren nie gesehen. Anderslautende Berichte waren erfunden.

Darf man das? Ja, behauptet zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar mit dem Titel: „Ein gestelltes Foto darf Geschichte schreiben“. Der Autor Gerhard Matzig bemüht zur Begründung die Geschichte:

Unfähig, zwischen Wahr und Unwahr zu unterscheiden

„Die Ikonographie der politischen Sphäre ist ein fester Bestandteil der Bildgeschichte. Immer schon war Politik auch Geste, Symbol, Haltung. Der Porträtist wie der Fotograf, der Blick des Betrachters und die Wahrheit im Auge des Betrachters: Das war immer schon Kalkül, Bestandteil der Politik. Das gilt für Brandts Kniefall in Warschau wie für das Händchenhalten von Kohl und Mitterand an den Gräbern des Schlachtfelds von Verdun oder auch für jenen Händedruck zwischen Arafat und Rabin. Das gilt für Machtposen wie dem Victory-Zeichen von Churchill bis de Gaulle oder auch für die Faust der Sozialisten.“

Wenn an dieser Aufzählung etwas bemerkenswert ist, dann ist es die darin aufscheinende Unfähigkeit des Journalisten, überhaupt zwischen Wahr und Unwahr zu unterscheiden. Statt sich für die Erfindung zu entschuldigen, wird auf einen Nebenkriegsschauplatz ausgewichen. Es geht ja nicht nur darum, daß das Foto gestellt war, sondern darum, daß die Berichte darüber falsch waren.

Die Nebenkriegsargumentation dürfte zudem einem Mißverständnis aufsitzen. Es mag ja sein, daß diese genannten Ereignisse nicht ohne Kalkül zustande kamen und die dabei entstandenen Bilder mit zu diesem Kalkül gehörten. Aber Brandt – dem manche übrigens Spontanität attestieren – hat in Warschau eben tatsächlich am angegebenen Ort gekniet, Kohl und Mitterand haben sich in Verdun tatsächlich an der Hand gehalten. Und wer wollte behaupten, daß Churchills bärbeißiges Victoryzeichen etwas anderes bedeutet hätte als den tatsächlich vorhandenen unbedingten Siegeswillen?

Die Annahme eines Kalküls entwertet die Symbolik

Die gesamte klassische Bildikonographie beruht auf der Annahme, eine einzelne Szene des realen Geschehens könne ein gewaltiges Gesamt-Geschehen symbolisieren. Oft genug sind deshalb gegen den Willen der Politik Bildikonen entstanden. Man denke etwa an das Bild des napalmverbrannten Mädchens, das den amerikanischen Vietnamkrieg in der Weltöffentlichkeit unwiderruflich denunziert hat.

Schon die Annahme eines Kalküls entwertet oder verschiebt die Symbolik. (Über Kohl-Mitterand, denen man das Kalkül deutlich ansah, ist damals in Deutschland auf breiter Fläche gespottet worden.) Nichts aber kann ein solches Symbol endgültiger entwerten als die Entlarvung seiner Fälschung. Der vergangenes Jahr verstorbene Hans Becker von Sothen hat dies in seinem Buch über „Bild-Legenden“ trefflich vorgeführt.

Natürlich wird diese Affäre in die Geschichte eingehen. Aber sie wird dies doch wohl eher als das, was sie tatsächlich symbolisiert: Eine europäische Politik, die unter sich und getrennt vom Volk bleibt, aber den gegenteiligen Eindruck erwecken will. Die Einigkeit simuliert, aber sofort auseinanderläuft, wenn die Fotos im Kasten sind. Eine deutsche Presse, die über diese Zustände in bester Absicht bewußt die Unwahrheit berichtet. Es kann schon sein, daß dies an den Nerven zehrt, wenn es jemand bemerkt.

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