Mut hat der Mann. Mit nur einem sichtbaren Personenschützer hat sich Vitali Klitschko am Morgen auf den Kiewer Maidan gewagt. Verbrannte Trümmer liegen weit verteilt, die alten Müllbarrikaden der ukrainischen Dauerprotestler sind zurück. Die Aktivisten sind stinksauer, beleidigen ihren neuen Bürgermeister übel. Den baumstammgroßen Ex-Boxer juckt das wenig: „Räumt unser Zentrum“, fordert er.
Warnungen hatte es genug gegeben. Die Mehrheit der Kiewer will das Zeltlager geräumt sehen. Für sie sind die Besetzer nur noch „Obdachlose und Alkoholiker“, welche ihre Khreschtschatyk, die Prachtallee in der Innenstadt, verschandeln würden.
„Chaoten-Aufstand gegen Klitschko“
Die gestrigen Unruhen werden von Bild als „Chaoten-Aufstand gegen Klitschko“ kommentiert. Doch der Bild-Reporter vor Ort erschien, als die attackierten Zelte bereits zerstört waren. Für jemanden, der vom ersten Augenblick an dabei gewesen ist, stellten sich die Ereignisse nicht als Straßenkampf dar – selbst wenn die gewaltigen Feuer auf dem Unabhängigkeitsplatz genau das nahelegen.
Dutzende Personen in orangenen Jacken, wie Mitarbeiter der Stadtreinigung aussehend, wanderten gegen 8.30 Uhr am Donnerstagmorgen in das Zeltlager – begleitet von einer Gruppe AK-bewaffneter Milizionäre der Kompanie „Kiew 1“, welche dem Innenministerium unterstellt ist.
Die Reaktion der Besetzer hatte nichts mehr vom Partisanenflair des letzten Winters: Die wenigen anwesenden Aktivisten schauten ungläubig zu, wie das Donbass-Lager eingerissen wurde, interessanterweise nicht von den Putzfrauen, sondern von kräftigen Männern, welche die apfelsinenfarbene Kleidung möglicherweise nur als Tarnung verwendeten. Unterstützung fanden sie von Männern in Zivilkleidung. Der Ablauf: Organisiert und zielgerichtet. In Windeseile wurde das einmal von allen Seiten eingerissene Zelt in Brand gesetzt.
Der Traum ist aus
Ein Trauerspiel. Das Demozentrum, das dem früheren Präsidenten Janukowitsch das Fürchten lehrte, sieht seinem Niedergang nun hilflos entgegen. Einige Kampierer schreien. Andere schichten neue Barrikaden aus Autoreifen und Holzpaletten. Doch die Gewalttätigkeit, dank ukrainischer Medien nach Deutschland übermittelt, stellt sich dann doch eher harmlos dar: Die sporadischen Steinewerfer schmeißen ins Leere. Und die Molotows finden Verwendung, um die sporadischen Straßensperren anzuzünden. Wie im Februar steht dichter schwarzer Rauch über der Kiewer Innenstadt. Es gibt nur wenige Leichtverletzte.
Dramatisch wird es, als ein Mann mit einer angeblichen Granate auftaucht: Einsatzkräfte werfen sich auf ihn, die Menge rennt auseinander. Die teils mit Sturmmasken bestückten Milizionäre blicken konzentriert auf die Dachkanten. Heckenschützen, Wurfgeschosse?
Und dann: Der Rückzug. Die Staatsmacht zieht sich so schnell zurück, wie sie gekommen war. Zurück bleibt ein verwundeter Maidan, welcher der ernüchternden Wahrheit ins Gesicht blickt: Der Strom unterstützender Massen bleibt aus. In der Bevölkerung herrscht zunehmend Frustration. Die Krim ist verloren, und im Osten eskaliert der Krieg. Kriegssteuer und Einberufungen stehen auf der Tagesordnung. Und vor allem die dramatische wirtschaftliche Lage. Dem Verfall der Landeswährung Griwna läßt sich Tag für Tag an den Anzeigetafeln beobachten: 10,66 UAH bekam der Kunde je Euro vor einem Jahr. Nun sind es bereits 16,27 UAH. Ganzen Industriezweigen, die bisher über zwei Drittel ihrer Exporte nach Russland verkauften, droht mit dem Aus der alten Handelsbeziehungen der finanzielle Tod: Maschinenbau, Kfz- und Lokomotiven-Produktion, Fleischwirtschaft.
Nur die Köpfe werden ausgewechselt
Im Angesicht der Probleme verhallen Forderungen der engagierten und akademisch gebildeten Maidan-Aktivisten nach politischer Säuberung, Ende der Korruption und Verfolgung der Todesschützen vom Februar zunehmend ungehört. Zu einer Demonstration vor dem Parlament kamen vor einigen Tagen nur noch gute einhundert Menschen. Präsident Poroschenko kam den Straßenoppositionellen pro forma entgegen – die „Werchowna Rada“ soll im Oktober neu gewählt werden. Doch an dem Umstand, dass nur Geld, nicht jedoch Ideen, über den Erfolg einer Partei entscheiden, habe sich nichts geändert … wenigstens darüber sind sich alle Ukrainer auf der Straße einig – und das ist selten.
Ukrainer sind individualistischer als Russen. Für den Moment ist dies eine Schwäche. Rings um den Maidan bilden sich Menschentrauben: Lauthals, teil in Rangeleien, wird über das weitere Vorgehen gestritten. Auch im Maidan-Pressezentrum ist eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interessengruppen zeitweise eskaliert, die sich gegenseitig vorwerfen, „die Maidan-Idee“ gegen Geld verkauft zu haben. Der 24jährige Archäologe Nikolay Andrievskiy sammelt mit Freunden Geld für Schutzwesten und Medikamente, die sie an die Ostfront schicken wollen – an die „schlecht ausgerüstete Armee“, wie er sagt. Nikolays Resümee: „Für diesen Maidan will ich nicht mehr in den Knast gehen.“