Die US-Rechte ist sich nahezu einig in der wunderlichen Auffassung, die „plötzliche“ Eruption einer besonders brutalen Fraktion sunnitischer Fundamentalisten namens „Islamischer Staat im Irak und in der Levante“ (ISIS) sei der von Barack Obama betriebenen Verkleinerung des außenpolitischen Fußabdrucks der USA zu verdanken. Kaum weniger wunderlich ist die Vorstellung, ISIS sei ein Neuling im Mordgeschäft. Die von Abu Bakr al-Baghdadi angeführte Splittergruppe operierte früher unter ihrem Gründer Abu Musab al-Zarqawiweniger ambitiös als „Al Qaida im Irak“ (A.Q.I.) und „war ursprünglich als eine Art sunnitische Fremdenlegion konzipiert, die die muslimischen Gebiete vor den westlichen Besatzern verteidigen sollte“, so Lawrence Wright im New Yorker. „Zarqawi hatte sich ein ehrgeizigeres Ziel gesetzt. Er hoffte, einen islamischen Bürgerkrieg zu provozieren.“ George W. Bush leistete dafür mit seiner Invasion die Vorarbeit. „Einen besseren Schauplatz als den entlang der sunnitisch-schiitischen Verwerfungslinie zerbrochenen irakischen Staat hätte Zarqawi sich nicht wünschen können.“ (Schiiten machen etwa 60 Prozent der irakischen Gesamtbevölkerung aus, die sunnitische Minderheit weniger als zwanzig Prozent.)
ISIS, so Wright weiter, ist so brutal und extrem, daß sie „aus dem Al-Qaida-Konsortium ausgestoßen wurde“. 2005 fragte Osama bin Ladens Vize Aiman az-Zawahiri brieflich bei Abu Musab al-Zarqawi an, ob es nicht sinnvoller wäre, die Schiiten zur Mudschaheddin-Bewegung zu bekehren, anstatt sie massenhaft abzuschlachten.
Zawahiris Appell, es auf die sanfte Art zu versuchen, stieß auf taube Ohren. Zarqawi wurde 2006 von den Amerikanern getötet, sein Vermächtnis lebt jedoch ebenso weiter wie das der Invasion. Der schiitische Iran, einst der Erzfeind von Saddam Husseins Irak, ist mittlerweile ein gern gesehener Gast in dem unter Bush neu entstandenen Irak. Zur Unterstützung der irakischen Armee wurde die Iranische Revolutionsgarde ins Land geholt. Trotz der fürstlichen Summe von 25 Milliarden US-Dollar, die die USA in die Schulung der 930.000 Mann starken irakischen Armee investiert hat, ließ sich diese künstliche Kreation der Bush-Brigaden in Mosul von 1.300 ISIS-Kämpfern in die Flucht schlagen. So wird die Revolutionsgarde wohl besser beraten sein, statt dessen hochmotivierte schiitische Milizen gegen die marodierenden Sunniten zu mobilisieren.
Das Chaos war vorhersehbar
Die jüngsten Ereignisse im Irak fügen sich in ein vorhersehbares Kontinuum ein. Seinen Anfang nahm es mit der Entmachtung eines Herrschers, der äußerst effektiv für Recht und Ordnung im eigenen Land zu sorgen wußte: Saddam Hussein. Wo früher Unterdrückung und Ordnung herrschte, sind heute Chaos und Blutbäder an der Tagesordnung. Die Gesetzlosigkeit, die wir Amerikaner mit unserer messianischen Mission über den Irak gebracht haben, hat viertausend Jahre alte Spaltungen neu aufbrechen lassen.
Die Verfasserin dieser Kolumne hat bereits gewarnt: „Sobald wir das Feld räumen, wird irgendein neuer Diktator vom Schlage Saddams das zurückbleibende Machtvakuum füllen, dem Irak die Scharia aufzwingen, zum Mahdi beten und Frauen zwingen, mit schwarzen Futtersäcken bekleidet herumzulaufen. Wir hatten es gut mit Saddam, weil er ein säkularer Herrscher war, ein Feind des fundamentalistischen Islam. Können wir wiederbekommen, was wir aus Torheit zerstört haben? Nein.“
„Der Irak ist ins Chaos zurückversunken“, schnaubte einer der beliebig austauschbaren Kommentatoren von Fox News, die sich bislang noch nie einen Deut um das Elend geschert haben, in das die Bush-Krieger den Golfstaat gestürzt haben: um die fast vollständige Auslöschung der dortigen Christen, die Millionen vertriebenen Iraker, die als Flüchtlinge im eigenen Land oder im Ausland vor sich hin darben. Falsch. Der Irak ist keineswegs plötzlich in diesen rückständigen und umnachteten Zustand „zurückversunken“. Er wurde von einer starrsinnigen Militärmacht dorthin zurückgebombt, die von Tuten und Blasen, geschweige denn Schiiten und Sunniten, keine Ahnung hat.