Was immer man in verkürzter Wahrnehmung von Marx halten mag, so hüte man sich vor pauschalen Urteilen. Der streitbare Philosoph und Politökonom ist weder für die bolschewistische Revolution von 1917 verantwortlich noch dafür, was daraus wurde; und schon gar nicht war er der Urgroßvater Honeckers oder Mielkes. Selbst im Ideologischen nicht! – Man lese noch einmal das Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ von 1859 und prüfe, was an diesem nüchtern analytischen Blick grundsätzlich nicht stimmen sollte.
Ich finde im Folgenden keinen Denkfehler:„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen.“
Verkürzt im Sinne des „Historischen Materialismus“: Das Sein – die Produktionsweise also – bestimmt das gesellschaftliche Bewußtsein, mithin die staatlichen, juristischen, religiösen, kulturellen und überhaupt denkerischen bzw. reflektierenden Ausdrücke von Individuum und Gemeinschaft. Die Hardware des Industriellen bedingt die Software des Ideellen und Kulturellen. Rückwirkend gilt das bedingt auch umgekehrt.
Soziale Verwerfungen durch Gleichstellungsrhetorik
Mit Blick auf die politischen Gegenwart dieser dritten, der Berliner Republik erscheint das besonders interessant, indem man folgenden Gedanken wage:
Wollte die aufstrebende kommunistische Bewegung, fixiert auf ihr fatales rousseauistisches Menschenbild, tatsächlich über einer Basis „vergesellschafteter Produktion“ wenigstens ihren Ansprüchen nach einen politisch urdemokratischen und freien Überbau entfalten – mit dem Ergebnis einer so verheerenden Desillusionierung, daß dem Bolschewismus nur der Zwangskommunismus der Straflager blieb – , so sehen die gegenwärtigen westlichen Demokratien des Marktwirtschaftskapitalismus und Globalismus ihr Heil darin, eine knallhart durchökonomisierte Basis, also unter anderem zunehmende Unversöhnlichkeiten im Sozialen, mit der Gleichstellungsrhetorik eines sozialistisch anmutenden Überbaus zu dämpfen oder gar zu kurieren.
Meinte früher der Sozialismus davon ausgehen zu können, der fragmentarisierte, entfremdete und daher amoralische Mensch werde in seinem (überbaulichen) Bewußtsein wieder harmonisiert und gebessert, wenn man ihm nur an der Basis die stimmigen Umstände dafür einrichte, so wird der neue Westen offenbar von dem Bedürfnis getrieben, der an der Basis leidende homo oeconomicus bedürfe überbaulich des therapeutischen Ausgleichs durch vermeintlich um so humanistischere Grundvereinbarungen. Das Ergebnis ist oft nur eine rhetorische Farce. Parallel zur betriebswirtschaftlichen Rechnerei regiert die politische Phrase.
Die legal Verblödeten werden einfach medial und sozial unterhalten
Weil die Wirtschaft als Basis immer weniger Leute sinnvoll nötig hat, weil immer weniger Basic-Spezialisten – Ingenieure, Techniker, Informatiker, Mathematiker, Naturwissenschaftler – den Laden gemeinsam mit Verwaltern, Juristen, Spezialisten des Machens und Politikern des Redens am Laufen halten, weil also die Zahl der passiven Konsumenten jene der aktiv schöpferischen Produzenten weit übersteigt, sollten von Staats wegen alle für die Wertschöpfung weitgehend Überflüssigen und Viel-zu-vielen doch den wohligen Eindruck gewinnen, sie wären wichtig, würden irgendwie gebraucht, seien per se talentiert, unverwechselbar und sehr wertvoll.
Für die produzierende und Wissenschaft treibende produktive Basis sind sie es jedoch nicht, schon gar nicht innerhalb weltweiter Arbeitsteilung mit indischen Informatikern und rumänischen Medizinern. Deswegen verkraftet es Deutschland beispielsweise problemlos, wenn zwanzig Produzent seiner Fünfzehnjährigen mittlerweile funktionale Analphabeten sind. Diese kulturell alarmierende Zahl ist nirgendwo Thema, weil man die innerhalb des Bildungssystems ganz legal Verblödeten einfach unterhalten wird – und zwar sowohl im medialen wie im sozialen Sinne.
Für die Arbeitswelt braucht man sie offenbar gar nicht mehr; sie werden technisch zur abstrakten Verwaltungsmasse heruntergestuft und von Discountern ernährt und eingekleidet. Richtig, die Wirtschaft drückt der Fachkräftemangel. Dies aber nicht, weil es zu wenig junge Menschen gäbe, sondern weil es zu wenig qualifizierungswillige und -fähige gibt.
Fauler Scheinfrieden
Schopenhauer bezeichnet diesen Bestand als „den großen Haufen“, Nietzsche als die „Fabrikware der Natur“. Eine Masse zwar ohne Macht, aber auch ohne das Bedürfnis danach, ohne Sinngebung, ohne Plan, eine – wieder mit Marx – „industrielle Reservearmee“ für die Statistiker und neuerdings vor allem eine Herausorderung für das Krisenmanagement der Massen-Altenpflege. Diesen Millionen sind die bürgerlichen Grundrechte so einerlei wie die Politik, von der sie durchregiert werden. Die Frage, mit welchem Handy-Modell sie ihre privaten Botschaften austauschen, ist ihnen weit wichtiger als die nach den res publica.
Während an der Basis also der Siegeszug informationsarbeitender Systeme für eine geradezu ungeheuerliche Effizienz sorgte und für die Aktienkurse die Tabellen bereits selbständig und im Mikrosekundentakt rechnen, während ferner alles, was mit Mühe und Dreck verbunden ist, in Billiglohnländer „outgesourct“ wurde, deren Volkswirtschaften dadurch übrigens zu prosperieren beginnen, ist Europa neben seinen neuen und alten Innovationszentren über weite Regionen von einer Degenerierung und Retardierung im Physischen wie Psychischen wie letztlich im Intellektuellen und Künstlerischen betroffen.
Keine Sendung mehr. Um so mehr hält dieses „Europa“ seine Werte hoch und hält sie anderen vor. Dabei handelt es sich um vordergründig nostalgische Akte oder solche der innerlich verzweifelten Selbstlegitimierung ohne echten Hintergrund, ohne Inspiration, ohne Kraft und ohne Verve. Je deutlicher diese Defizite zutage liegen, um so mehr wird ein fauler Scheinfrieden gepflegt, in dem sich jeder, selbst jeder Kretin, noch mal so richtig wichtig nehmen darf – gleichgestellt, nicht diskriminiert und in weitgehender Talentfreiheit von Inklusions-Maßgaben geschützt.
„Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten“
Nein, „Selektion“ – gegenwärtig das bestimmende Droh- und Unwort – wäre nie und nimmer die Alternative. Im Gegenteil: Es läge mindestens noch eine theoretische Chance darin, auf ein Selbstverständnis von Leistungsorientierung und höchsten Ansprüchen an sich selbst zu setzen, statt auf geringstem Niveau eine quasisozialistische Gleichheit einfach auf die Weise dekretieren zu lassen wie jeder, der erst mal im Gymnasium angekommen ist, irgendwann auch ein Abiturzeugnis ausgedruckt bekommt. Leistung kann man stimulieren, man muß sie aber auch erzwingen. Allein schon der Vorsatz junger Menschen, trotz all der „Angebote“ weder verfetten noch verblöden zu wollen, wäre die erste Mehrleistung, mit der sich auch das System der Berliner Republik wieder vitalisieren ließe.