Das Herz Europas schlägt dieser Tage in Kiew. Ein Volk versucht sich unter Blutvergießen freizukämpfen. Der korrupte Herrscher ist gestürzt und flieht. Das Volk nimmt staunend dessen verwaiste Residenz in Besitz. Familien spielen mit ihren Kindern auf Janukowitschs Golfplatz, den zu betreten für Normalsterbliche noch Tage zuvor undenkbar war. Die Großgarage Janukowitschs mit Dutzenden Nobelkarossen wird zum Symbol für den kleptomanischen Charakter des Satrapenclans. Der in den wenigen Jahren von Janukowitschs Herrschaft einen unvergleichlichen Reichtum zusammengerafft hat, während draußen im Land, an den Straßen und Bahnhöfen, vor den Kirchen, arme Mütterchen ihr täglich Brot erbetteln müssen.
Das, was sich in der Ukraine in den letzten Wochen abgespielt hat, läßt sich unter mehreren Aspekten einordnen. Zuallererst ist es der Widerstand auf dem Maidan, dem die Bewunderung gilt. Und der zeigt, daß sich die Menschen in der Ukraine nicht mehr alles gefallen lassen und der sowjetischen Unterdrückung nach mehr als zwanzig Jahren auch innerlich entwachsen sind. Die unter Jubel vom Sockel gerissenen Leninstatuen legen, wie zuletzt in Tschernigiw, Zeugnis davon ab. Daß sie es gründlich satt haben, die Statthalter Moskaus über sich regieren zu lassen. Daß es einen Weg aus Enttäuschung und Lethargie gibt. Daß Machthaber im Europa des 21. Jahrhunderts den Bogen spannen, sich aber hüten sollten, ihn zu überspannen.
In der Ukraine, ganz besonders im freiheitsliebenden Westen, war das Faß mit alltäglich erfahrener Willkürherrschaft, Korruption und dümpelnder Wirtschaft bis oben hin gefüllt. Ein geringfügiger Tropfen genügte am Ende, es überlaufen zu lassen. Ein Ozean aus Wut ergoß sich, und beileibe nicht nur im Westen, wie gern Glauben gemacht wird.
Die Witterung der Oligarchen
Zweitens zeigt er, daß Widerstand entschlossen auftreten muß. Bloße Versammlungen mit brennenden Kerzen und Popkonzerten hätten den Umsturz nicht bewirkt. Ohne die todesmutig auftretenden Aktivisten, die, martialisch bekleidet, die Barrikaden am Maidan hielten, wäre das Regime nicht erodiert.
Drittens zeigt sich einmal mehr, daß sich Regierende nur halten können, wenn die eigenen Reihen geschlossen sind. Daß war in Kiew zum Schluß nicht mehr gegeben. Die Abgeordneten seiner Partei verweigerten Janukowitsch die Gefolgschaft, Kiews Bürgermeister solidarisierte sich mit der Opposition, das Schlüsselministerium des Innern schwenkte um. Janukowitschs Macht bröckelte, weil die ihn stützenden Oligarchen witterten, daß sich mit einem westlich orientierten Staatspräsidenten noch bessere Geschäfte würden machen lassen.
Kaum war Janukowitsch de facto erledigt, schlug für Julia Timoschenko die große Stunde. Keine vier Stunden nach seiner Entmachtung tauchte die Haftentlassene wie Phönix aus der Asche auf dem Maidan auf und setzte sich umgehend an die Spitze der Bewegung. Klitschko und Jazenjuk werden dumm aus der Wäsche geguckt haben. Sie haben in Winterkälte auf dem Platz ausgeharrt, sie haben sich in Verhandlungen mit der Macht gefetzt.
Der Westen sollte sich genau überlegen, wem er mit Geld hilft
Das lehrt viertens, daß Revolutionen klare Ziele haben und auch gewonnen werden müssen. Sonst bietet sich in Kiew alsbald das Bild einer Drehtür, durch die Janukowitsch abtritt, aber Timoschenko hineinkommt – zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beide sind korrupt bis ins Mark, beide sind aufs engste mit dem Organisierten Verbrechen verbandelt. Schon jetzt zeichnet sich ein solches Szenario ab: Mit dem neuen Parlaments- und Übergangspräsidenten Olexandr Turtschinow ist ein Vertreter der alten Garde ans Ruder gekommen. Turtschinow war hoher Komsomolfunktionär für Propaganda, Berater von Staatspräsident Leonid Kutschma und Chef des Geheimdienstes. Für die Demonstranten, für das Volk, das sich nach einem besseren Leben in Würde sehnt, wären so nur die Unterdrücker ausgewechselt. Es wäre jammerschade um das sinnlos vergossene Blut.
Und es wäre fatal angesichts einer schon jetzt von EU, den USA und dem Internationalen Währungsfonds in Aussicht gestellten finanziellen Unterstützung für das Land.
Der Westen muß sich daher sehr genau überlegen, wem er bereitwillig mit Euros und Dollars unter die Arme greift. Sollten sich die Kiewer Proteste einmal mehr als Inszenierung herausstellen, bei der letztlich nur ein Regime durch das andere ersetzt wird, würde mit westlichen Finanzspritzen das aus alten kommunistischen Kadern bestehende, scheinbar rivalisierende Oligarchen-System eher gestärkt als geschwächt. Und das auch mit deutschen Steuergeldern.