Zu den Rätseln des Sommers 1914 und den später vieldiskutierten Problemen gehört die deutsche Kriegserklärung an Rußland vom 1. August 1914. Mit diesem Schritt tat die deutsche Regierung tatsächlich als erste Regierung Europas einen juristischen Schritt in Richtung des gesamteuropäischen Krieges. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Krieg formal noch eine Angelegenheit zwischen Österreich-Ungarn und Serbien gewesen. Das war er nun nicht mehr.
An sich bestand zu dieser Kriegserklärung an Rußland natürlich jeder Anlaß. Seit gut einer Woche wurde der Krieg durch die russischen und französischen Mobilmachungen und Vorbereitungen für einen Angriff auf Deutschland praktisch bereits geführt. Deutschland war unmittelbar bedroht und von beiden Staaten darüber so weit wie möglich im Unklaren gelassen worden. In St. Petersburg und Paris war der Krieg zu dieser Zeit bereits beschlossene Sache. Man machte heimlich mobil – und von den Offiziellen beider Länder bis hinauf zum Zaren und dem Präsidenten der französischen Republik waren darüber nur Unwahrheiten und sogar vielfach die glatte Ableugnung der Wahrheit zu hören.
Nun konnte man auch in Berlin am 1. August nicht mehr warten und schickte ein Ultimatum nach Rußland. Es forderte den Abbruch der russischen Mobilmachung. Wenn die russische Regierung dieses Ultimatum verstreichen ließ, bedeutete das praktisch und juristisch die russische Kriegserklärung an Deutschland. Man konnte in Berlin demnach die russische Reaktion abwarten und in der Zwischenzeit mit den eigenen militärischen Vorbereitungen beginnen.
Warum den Krieg erklärt? Vermutlich verlor Berlin die Nerven
Größere Angriffsaktionen waren im Osten nicht geplant. Die letzten Überlegungen in diese Richtung waren 1913 eingestellt worden. Obwohl die russische Armee in ihrer Mobilmachungsphase ein treffliches Ziel abgegeben hätte und eine deutsche Großoffensive im Osten die gesamten militärisch-politischen, sorgfältig auf die deutsche Verletzung der belgischen Neutralität abgestimmten Kalkulationen der deutschen Kriegsgegner hinfällig gemacht hätte, lag in Berlin kein „Plan B“ in der Schublade.
Man verließ sich auf den Großangriff auf Frankreich, um danach die russische Invasion abwehren zu können. Es würde unter diesen Umständen eigentlich genügen, wenn der Krieg durch die weiter laufende Mobilmachung und die schließliche russische Grenzüberschreitung militärisch wie juristisch eröffnet werden würde. Doch bald schickte man in Berlin dem Ultimatum noch am gleichen Tag tatsächlich die eigene Kriegserklärung hinterher, zur Irritation und Fassungslosigkeit auch des inneren Kreises der deutschen Militärführung. Die militärischen Vorteile waren gleich Null, die politischen Nachteile erheblich. Die russische Aggression ließ sich in der alliierten Presse nun wohlfeil als deutsche Aggression darstellen. Wer wußte im Publikum schon über Details von Mobilmachungsfragen Bescheid oder wollte das überhaupt wissen?
Es hat sich wohl nie recht aufklären lassen, warum dieser Fehler begangen wurde. Möglicherweise hat man in Berlin, als die russische Dampfwalze rollte, einfach die Nerven verloren.