Auf den ersten Blick scheinen die Vorgänge in der Ukraine und um die in Japan als Senkaku- und in China als Diaoyu-Inseln bezeichnete Inselgruppe nichts gemeinsam zu haben. Deutet man diese aber von einer geopolitischen Warte aus, erkennt man doch eine Parallele: Beide Gebiete stehen, wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen, im Fokus geopolitischer Akteure.
Was im Fall der Ukraine noch nachvollziehbar erscheint, erschließt sich mit Blick auf die weitgehend unbewohnte Inselgruppe im Ostchinesischen Meer nicht ohne weiteres. Und dennoch schwelt genau um diese Inseln ein Konflikt, der das Potential hat, sich bei einer weiteren Zuspitzung eruptiv zu entladen. China, Japan und Taiwan reklamieren sie als Teil ihres Hoheitsgebietes. Bereits seit den sechziger Jahren werden im Meeresboden rund um diese Inseln umfangreiche Erdöl- und Erdgasreserven vermutet.
Ein Exempel von China
Insbesondere für China haben die Inseln eine hohe ressourcenstrategische Bedeutung: Seit 1993 nämlich, so konstatierte der amerikanische Friedens- und Sicherheitsforscher Michael Klare in einem Beitrag für die deutschsprachige Ausgabe von Le Monde diplomatique, sehe sich China im steigenden Maße gezwungen, Energieträger und Rohstoffe zu importieren. Aktuelle Prognosen, so Klare resümierend, gingen von einem weiteren rasanten Anstieg aus. Bis 2040 könnte China beim Erdölbedarf die Größenordnung der USA erreicht haben. Peking sieht sich also bereits jetzt, um so mehr aber in Zukunft, mit einer eklatant wachsenden Rohstoff- und Energieabhängigkeit konfrontiert. Wieweit China zu gehen bereit ist, um diesen Zielen Nachdruck zu verleihen, dafür könnten die Senkaku-/Diaoyu-Inseln zum Exempel werden.
Ressourcenstrategisch gesehen gehört die Ukraine zu den „geopolitischen Dreh- und Angelpunkten“, die Zugang zu Rohstoffen und Energiequellen haben und deshalb von besonderer Bedeutung sind. Am 28. November sorgte die ukrainische Regierung für einen Paukenschlag, als sie das Assoziierungsabkommen mit der EU aussetzte. Westliche Medien suggerierten, daß Kiew bei dieser Entscheidung insbesondere auf russischen Druck reagiert habe, das im Tauziehen um die Ukraine mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Beziehungen droht. Die prowestliche ukrainische Opposition organisiert seit Wochen Großdemonstrationen, in denen die Regierung zum Rücktritt aufgefordert wird.
Harte Bedingungen für einen EU-Beitritt
Was in der Berichterstattung gern übergangen wird, sind die Bedingungen, die die EU und auch der Internationale Währungsfonds der Ukraine im Falle einer Ratifizierung des Abkommens abverlangen: Allein die Anpassung an die Standards der Union – die ukrainische Regierung sprach von einer Summe von 165 Milliarden Euro – würde das Land finanziell vollends ruinieren. Zu dieser Anpassung gehören die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Privatisierung von Staatsbetrieben und der Abbau öffentlicher Schulden. Angeboten wurde der Ukraine seitens der EU aber nur ein Kredit von einer Milliarde Euro mit einer Laufzeit von sieben Jahren. Überdies unterstützt Brüssel den IWF, der die weitere Auszahlung eines 15-Milliarden-Kredits an die Bedingung drastischer Sparmaßnahmen zu Lasten der Bevölkerung knüpft. Unter anderem soll Kiew den Gaspreis um 40 Prozent erhöhen.
Doch damit nicht genug. Die Abschaffung von Zöllen auf europäische Waren würde der ukrainischen Wirtschaft eine schwere Krise bescheren. Viele Betriebe müßten wahrscheinlich Bankrott anmelden. Überdies sollte das ukrainische Parlament der Freilassung von Julia Timoschenko zustimmen, was es jedoch abgelehnt hat. Die wohl gravierendste Folge aber wäre gewesen, daß die Ukraine von ihrem größten Handelspartner Rußland abgeschnitten würde. Moskau bemüht sich seit geraumer Zeit, als Architekt einer Zollunion ein Gegengewicht zur EU zustande zu bringen, zu der bisher allerdings nur Weißrußland und Kasachstan gehören. Aus dieser Zollunion soll dann einmal eine Eurasische Union hervorgehen.
Interessenverschiebung der US-Außenpolitik
Die Ukraine spielt im russischen Kalkül eine zentrale Rolle. Moskau geht es nicht zuletzt darum, einer möglichen Marginalisierung durch die EU und damit den Westen in seiner Interessenssphäre entgegenzuwirken.
Parallel dazu vollzieht sich beim wichtigsten geopolitischen Akteur, den Vereinigten Staaten, eine bedeutsame Verschiebung der außenpolitischen Prioritäten. Der Fokus der Amerikaner richtet sich mehr und mehr auf den asiatisch-pazifischen Raum. Indizien dafür sind unter anderem die Übereinkunft mit Teheran über dessen Nuklearprogramm, aber auch, daß Washington auf russische Vermittlung von einem Militärschlag gegen Syrien abgesehen hat. Eine Entwicklung, die von Amerikas Verbündeten in dieser Region, Israel und Saudi-Arabien, mit einer Mischung aus Irritation und Hysterie zur Kenntnis genommen wird. Sie ahnen, daß das Gewicht des Iran in der Region zu ihren Lasten wachsen wird.
Diese Interessenverschiebung der US-Außenpolitik sollte eigentlich die Europäer auf den Plan rufen, in ihrem strategischen Umfeld aktiv zu werden, wofür das anstehende Treffen des Europäischen Rates ein Forum wäre. Seit langem steht wieder einmal die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf dem Programm. Daß dort Substantielles zur Steigerung der militärischen Handlungsfähigkeit beschlossen wird, ist allerdings nicht zu erwarten.
Stattdessen übt man sich in einer unverbindlichen Freund- und Partnerschaftsrhetorik, mit der das schwindende Gewicht Europas in der Welt übertüncht wird. Nicht nur wegen der geopolitischen Schwergewichtsverschiebung der USA wird es höchste Zeit, daß man sich in Europa, insbesondere aber in Deutschland darauf besinnt, was die Voraussetzung einer erfolgversprechenden Interessenpolitik ist, nämlich ein entsprechendes Macht- und damit Einflußpotential, das sich nicht in „soft power“ erschöpft.
JF 51/13