Wann hätte die Verleihung des Büchner-Preises jemals solche Irritation ausgelöst? Wann hätte je ein Preisträger gewagt – subtil, aber hinreichend deutlich –, die Weltanschauung des Namenspatrons grundsätzlich in Frage zu stellen? Wann hätte solche Reaktion – Reaktion im Wortsinn – je Verteidiger gefunden in bundesrepublikanischen Feuilletons? Die Antwort auf alle drei Fragen kann nur lauten: noch nie.
Gelungen ist dies nun dem Schriftsteller Martin Mosebach. Nachdem man eben noch irritiert war, daß er eine Ehrung annahm, die befürchten ließ, daß ihn das linksliberale Establishment in den Fängen habe, darf man jetzt nicht nur aufatmen, sondern hat ihm zu danken für einen eminenten Tabubruch. Das Tabu, das Mosebach mit seiner Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises auf der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt am letzten Oktober-Wochenende gebrochen hat, ist ein besonders starkes, bewehrt durch das Gebot: „Du sollst nicht vergleichen“.
Der Vergleich, den Mosebach gezogen hat, war der zwischen dem jakobinischen und dem nationalsozialistischen Terror. Damit hat er die Singularität der Massenvernichtung während des Zweiten Weltkriegs noch prinzipieller in Frage gestellt als der Historiker Ernst Nolte mit seinem Verweis auf den „kausalen Nexus“ zwischen Rassen- und Klassenmord im 20. Jahrhundert (siehe hierzu auch das Interview auf Seite 21 dieser Ausgabe). Der moderne Totalitarismus erhielt seine Vorgeschichte zurück, die allzu oft unbeachtet bleibt oder bewußt verschwiegen wird, um das volkspädagogisch Erwünschte in Geltung zu halten.
Der Angriff Mosebachs konnte natürlich nicht unbemerkt bleiben, und so hat zuerst der Historiker Heinrich August Winkler (in einem Interview mit dem Deutschlandradio am 30. Oktober), dann Alt-Kommunist Christian Semler am 1. November in der taz auf den inakzeptablen, weil „reaktionären Standpunkt“ hingewiesen, der die Aufklärung und die Errungenschaften der Französischen Revolution prinzipiell in Frage stelle.
Bezeichnenderweise wurden die von Mosebach ins Feld geführten Tatsachen nicht bestritten, aber die Untaten der Jakobiner gelten als „Perversionen“ des ursprünglich Guten und als „Grausamkeiten in einem Bürgerkrieg“ (Winkler), wie es sie immer gegeben habe. Nun könnte man die Debatte darüber wieder aufnehmen, ob nicht auch die ermordeten Juden Opfer eines „europäischen“ oder „Weltbürgerkrieges“ waren, aber das würde vom Zentrum ablenken. Denn auffällig ist die Art und Weise, in der hier – von Semler naturgemäß stärker als von Winkler – das Ungeheuerliche beschönigt wird.
Die Ausschreitungen des Pöbels waren kein Zufall
Lorenz Jäger hat auf diesen Sachverhalt in mehreren Beiträgen für die FAZ hingewiesen und Aufschlußreiches zur Unbelehrbarkeit der linken Intelligenz beigetragen. Aber vielleicht hat man es nicht oder nicht nur mit Böswilligkeit zu tun, sondern mit Unkenntnis, Unkenntnis etwa über die Tatsache, daß die Umwälzungen in Frankreich zwischen 1789 und 1799 einer Million Menschen das Leben kosteten: Opfer der revolutionären Justiz, der systematischen Vernichtung wegen Abstammung (Adlige) oder Überzeugung (Katholiken), der Pogrome (gegen Reiche, auch und gerade gegen reiche Juden, gegen Deutsche oder Bretonen, die nicht die „Sprache der Revolution und der Menschenrechte“ sprachen) oder Opfer des Bürgerkriegs, in Sonderheit im Süden und den westlichen Departements.
Es gab zahllose Ausschreitungen des Pöbels, deren Spontaneität so zweifelhaft ist wie die der „Reichskristallnacht“, aber vor allem eine systematische staatliche Schreckensherrschaft. Die Truppen der Republik haben in der Vendée nicht nur gemordet und verwüstet, vergewaltigt, summarisch erschossen, ertränkt oder guillotiniert, sondern auch gehäutet und bei lebendigem Leibe verbrannt; der Konvent diskutierte Pläne, die gesamte Bevölkerung – unter Einschluß von Frauen und Kindern – durch Vergiftung des Wassers oder durch Vergasung zu töten, fand das Projekt aber leider undurchführbar. Der „innerfranzösische Völkermord“ (Reynald Secher) sollte damit enden, auch den Namen der Provinz „Vendée“ zu tilgen und durch „Vengé“ – „Rache“ – zu ersetzen.
Entgegen der von Winkler suggerierten Auffassung war das alles kein Zufall oder Mißbrauch des eigentlich Richtigen, auch kein Akt revolutionärer Notwehr, wie Semler meint, sondern Konsequenz einer egalitären und rationalistischen Ideologie, deren Wirklichkeitsfremdheit ihre Anhänger immer dazu zwang, sie wenn überhaupt, dann mittels Gewalt zu realisieren.
Winkler selbst weist auf die Forschungen des israelischen Historikers Jacob Talmon hin, der die fatalen Folgen dieser Art von „totalitärer Demokratie“ analysiert hat, die von Rousseau erdacht und dann von Robespierre und seinen Anhängern umgesetzt wurde. Allerdings fehlt eine Anmerkung dazu, daß es Konservative waren, die schon als Zeitgenossen der Revolution (Edmund Burke, Joseph de Maistre, Antoine de Rivarol) voraussagten, was dem Umsturz der traditionellen Ordnung folgen werde, und dann eine lange Reihe der Nachgeborenen (von Constantin Frantz über Hippolyte Taine und Pierre Gaxotte bis zu Waldemar Gurian, Erik von Kuehnelt-Leddihn und Alexander Solschenizyn), die die Konsequenzen der „Ideen von 1789“ weiter beobachtet und analysiert haben.
Den Jakobinern gingen die Girondisten voraus
Sie alle sahen den Zusammenhang von Gleichheitsideologie, Totalitarismus, terroristischer Gewalt und Ausmordung der „Ungleichen“. Ihre Rede von den „roten“ und den „braunen Jakobinern“ (Emil Franzel) des 20. Jahrhunderts, die so oder so die Grundvorstellungen der radikalen Revolutionäre aufgenommen hatten, enthielt aber auch eine Kritik des „westlichen“ Gesellschaftsmodells: Den Jakobinern gehen die Girondisten voran. Das hören Winkler und Semler nicht gerne, und ihr Vorwurf der „Geschichtsklitterung“ klingt deshalb so schrill, weil sie von der eigenen ablenken möchten. Beide ahnen, was geschehen würde, wenn man die Verzeichnungen beseitigte und ein vollständiges Bild der Vergangenheit gäbe.
Mosebach hat mit seiner Verknüpfung der Rede Saint Justs von 1793 und der Posener Geheimrede Himmlers von 1943 eine erste Skizze geliefert. Die wäre weiter auszuführen, unbekümmert um jene Kritik, die eine Geschichtsphilosophie voraussetzt, in der alles, was der Französischen Revolution Widerstand leistete, nur auf Irr-, weil Sonderwege führen konnte. Die stehen unverdient im Ruf der Sackgassen. Vielmehr müßten die Sonderwege wieder freigelegt und auf neue Weise gangbar gemacht werden. Das gehört zu den wichtigsten Aufgaben jenes Lagers, das man wahlweise als „konservativ“, „gegenrevolutionär“ oder „reaktionär“ bezeichnen mag.