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ESN-Fraktion, Europa der souveränen Nationen

Interview: „Blamiert bis auf die Knochen“

Interview: „Blamiert bis auf die Knochen“

Interview: „Blamiert bis auf die Knochen“

Bolkestein
Bolkestein
EU- und Eurokritiker Frits Bolkestein: Scheitert der Euro, wird weder die Wirtschaft zusammenbrechen, noch wird es Krieg geben Foto: picture alliance/dpa/dpaweb
Interview
 

„Blamiert bis auf die Knochen“

Frits Bolkestein war Kommissar der EU – heute zählt er zu ihren prominentesten Kritikern. Im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT wirft er dem Establishment vor, die Bürger mit dem Euro in eine Sackgasse gelockt zu haben. Und die Deutschen dürften wegen ihrer Vergangenheit nicht einmal frei über die Gemeinschaftswährung reden.
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Frits Bolkestein war Kommissar der EU – heute zählt er zu ihren prominentesten Kritikern. Im Interview mit der JUNGEN FREIHEIT wirft er dem Establishment vor, die Bürger mit dem Euro in eine Sackgasse gelockt zu haben. Und die Deutschen dürften wegen ihrer Vergangenheit nicht einmal frei über die Gemeinschaftswährung reden.

 

Herr Professsor Bolkestein, Sie waren jahrelang EU-Kommissar – wie können Sie da ein Kritiker der EU sein?

Bolkestein: Warum denn bitte nicht? Ich finde, Ihre Frage offenbart ein erschreckendes Schwarzweiß-Denken.

Sind Sie ein Euro-Hasser?

Bolkestein: Was? Wie kommen Sie denn darauf?

Warum sonst möchten Sie Europa zerstören?

Bolkestein: Mit Verlaub, ich habe noch nicht erlebt, daß ein Interview mit so dummen Fragen begonnen wurde. Ich lebe in Europa, ich bin Europäer. Warum sollte ich Europa hassen oder zerstören wollen?

Das weiß ich auch nicht.

Bolkestein: Irgendwie müssen Sie doch auf diesen Unsinn gekommen sein.

Sie üben ähnliche Kritik an EU und Euro wie die Alternative für Deutschland (AfD), die Europa angeblich haßt und zerstören will.

Bolkestein: Sagt wer?

Zum Beispiel der „Spiegel“ oder Politiker der etablierten Parteien in Deutschland.

Bolkestein: Ich bin mit Hans-Olaf Henkel von der AfD persönlich bekannt und ich sage Ihnen, daß man in Deutschland immer wieder versucht, seine Partei in eine rechtsradikale Ecke zu drücken ist die pure Verleumdung. Die AfD ist ganz bestimmt keine extreme Partei.

„Das Europäische Parlament ist kein gutes Parlament“

Aber sie ist gegen die Euro-Rettung und gegen „mehr Europa“.

Bolkestein: Damit hat sie durchaus recht, wir brauchen nicht immer „mehr Europa“, sondern ein vernünftiges Europa, ein Europa, das funktioniert. Im übrigen gibt es einen Unterschied zwischen Europa und der EU. Ich bin für Europa und auch für die EU, aber diese muß sich wandeln.

Inwiefern?

Bolkestein: Zum Beispiel genügen zwölf Kommissare völlig, damit die EU funktioniert – wir aber haben 28! Und auf nahezu jedes Problem reagiert das Europäische Parlament mit der Forderung nach Vertiefung der europäischen Integration. Damit aber ist es nicht repräsentativ. Denn in der Mehrzahl der EU-Länder wollen die Bürger nicht „mehr Europa“, sondern im Gegenteil „weniger Europa“. Dieser Lösungsansatz kommt im EU-Parlament aber kaum vor. Daher bildet es nicht das Wollen der Mehrheit der EU-Bürger ab. So etwas ist kein gutes Parlament. Und was den Euro angeht, der hat sich wohl für alle sichtbar als Flop erwiesen.

Die deutsche Bundeskanzlerin sieht das nicht so. Warum ist das für Sie so offensichtlich?

Bolkestein: Weil die krisengeschüttelten Südländer im Einheitseuro nicht abwerten können. Und solange sie das nicht tun, werden sie auch nicht aus ihrer wirtschaftlichen Misere herauskommen.

Aber die von Deutschland propagierte Austeritätspolitik …

Bolkestein: Wird diesen Zustand nur verlängern. Und wer diesen Zustand verlängert, ist mitverantwortlich für Not und Elend der Krise in diesen Ländern.

„Merkel will nur eine Idee am Leben halten“

Das ist ein schwerer Vorwurf.

Bolkestein: Ich weiß.

Viele Menschen in den betroffenen Ländern stürzen in völlige Armut, verlieren die Wohnung, wohnen in ihren Autos oder auf der Straße. Die Zahl der Depressionserkrankungen und Selbstmorde steigt.

Bolkestein: Ich bin mir der moralischen Schwere des Vorwurfs voll bewußt. Aber er ist in der Sache absolut zutreffend.

Allerdings, die Südländer wollen den Euro doch gar nicht verlassen.

Bolkestein: Weil sie die Verbindung zwischen dem Euro und ihren Problemen nicht wahrhaben wollen. Vierzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Spanien zum Beispiel sind ein Resultat vor allem des Euro.

Ist es denn wirklich möglich, daß die gesamte Elite der Südländer das nicht sieht?

Bolkestein: Ich will nicht sagen, daß sie die Zusammenhänge nicht verstehen, vielmehr scheuen sie wohl davor zurück, sich die Wahrheit einzugestehen. Denn die Folge wäre, daß sie die warme Gemeinschaft der Euro-Zone verlassen und sich in einer harten Welt selbst behaupten müßten.

Aber geben wir den Euro auf, wird die deutsche Wirtschaft schwer geschädigt.

Bolkestein: Unsinn! Das ist wie Frau Merkels Drohung, ohne den Euro gebe es Krieg in Europa. So macht man Kindern Angst: „Sonst holt dich der schwarze Mann!“ So zu reden bedeutet, die europäischen Bürger wie Kleinkinder zu behandeln. Scheitert der Euro, wird weder die deutsche Wirtschaft zusammenbrechen, noch wird es Krieg in der EU geben. Bestellen Sie das Frau Merkel mit besten Grüßen von mir.

Warum sagt sie das dann?

Bolkestein: Weil sie eine Idee am Leben halten will. Was soll sie sonst tun? Etwa zugeben: „Wir haben euch Bürger jahrelang in die Irre geführt!“ Sie stünde total blamiert da. Alle, das ganze europäische Establishment wäre blamiert bis auf die Knochen. Das wagen sie nicht.

„Die Deutschen dürfen nicht frei über den Euro sprechen“

Warum können Sie das sagen, ohne als Antieuropäer beschimpft zu werden?

Bolkestein: Weil die Debatte in Holland viel freier ist als in Deutschland. In Holland sagt fast jeder das, was ich sage. In Deutschland dagegen ist die Debatte stark politisch korrekt aufgeladen. Deshalb werden bei Ihnen Hans-Olaf Henkel und die anderen Professoren von der AfD auch ständig als Rechtspopulisten verunglimpft. Das würde in Holland niemandem einfallen. Hier müßte ich auch keinem erklären, daß der Euro gescheitert ist. Das wissen die Leute hier.

Warum ist die Debatte in Deutschland so aufgeladen?

Bolkestein: Weil der Euro eigentlich ein deutsches Projekt ist.

Moment, die Franzosen haben uns ihn als Preis für die deutsche Einheit abverlangt, so sagt es Helmut Kohl.

Bolkestein: Mag sein, aber es gibt eine argumentative Verbindung zwischen dem Euro und der deutschen Geschichte von 1933 bis 1945.

Inwiefern?

Bolkestein: Helmut Kohl hat vor der  Einführung des Euro intern zugegeben, daß er ökonomisch für Deutschland von Nachteil ist, aber, so Kohl, er vertiefe Deutschlands Freundschaft zu den anderen europäischen Staaten, was Deutschland wegen seiner Geschichte brauche.

Wir haben den Euro wegen Auschwitz eingeführt?

Bolkestein: Ich glaube, es war Thilo Sarrazin, der gesagt hat: „Der Euro ist ein Kind des Holocaust.“ Nun, das ist ziemlich brutal formuliert, und ich würde das so nicht sagen, aber da ist etwas dran. Und dieses Körnchen Wahrheit ist es, das es den Deutschen verbietet, frei und offen über den Euro zu sprechen.

„Die Eliten fürchten sich vor dem Ende des Euro“

Dann ist der Euro ein ideologisches Projekt?

Bolkestein: Natürlich. Das sehen Sie doch daran, daß man etwa Griechenland hat teilnehmen lassen, obwohl klar war, daß das Land nicht fit für den Euro ist. Das gleiche mit Italien. Ich wollte Italiens Beitritt zum Euro damals nicht zustimmen. Bundesbankpräsident Hans Tietmeyer gab mir intern recht, öffentlich aber nicht, weil Helmut Kohl Italien dabeihaben wollte. Erst haben sie also Griechenland und Italien reingelassen, und dann haben Deutschland und Frankreich 2003 auch noch die Stabilitätskriterien gerissen. Immerhin haben sich die Deutschen dafür entschuldigt – die Franzosen nicht. Na ja, die Franzosen entschuldigen sich nie für irgendwas.

Warum haben Sie sich in der Italien-Frage nicht durchgesetzt?

Bolkestein: Eine gute Frage. Denn ich muß zu meiner Schande gestehen, ich habe schließlich doch zugestimmt.

Warum?

Bolkestein: Weil ich keine andere Möglichkeit gesehen habe. Hätte ich es nicht getan, hätte ich zurücktreten müssen.

Warum sind Sie nicht zurückgetreten?

Bolkestein: Eine berechtigte Frage. Vielleicht hätte ich es tun sollen, denn die Nordländer und Südländer des Euro haben einfach zwei verschiedene Kulturen, die unvereinbar sind. Die Nordländer wollen Stabilität, die Südländer Solidarität. Und was bedeutet Solidarität? Es bedeutet das Geld anderer Leute. Der Norden will ökonomische Probleme ökonomisch lösen, der Süden dagegen politisch. Auch das zeigt, die Idee einer Währung für alle – was auch eine Währungspolitik für alle bedeutet – war von Anfang an falsch. Und deshalb wird es auch immer schlimmer werden, solange wir so weitermachen.

Aber das müssen doch auch unsere Eliten wissen.

Bolkestein: Sicher, aber erstens: Die Eliten machen zuviel Geld mit dem Euro, eine Auflösung der Euro-Zone ist nicht in ihrem Interesse. Das ist das Problem: Die Eliten profitieren, die einfachen Leuten zahlen die Zeche. Zweitens, unsere Eliten haben sich ganz und gar der politischen Idee des Euro verschrieben. Es ist einfach schon viel zuviel politisches Kapital in das Euro-Projekt investiert worden. Auch hier fürchten sie zuviel zu verlieren, wenn sie ihren Fehler öffentlich einräumen würden.

„Vormarsch der Euroskeptiker ist ein Warnsignal“

Was wird also passieren?

Bolkestein: Ich sage Chaos voraus, wenn es keine fundamentale Änderung in der Euro-Politik gibt.

Konkret?

Bolkestein: Es wäre nicht seriös, Ihnen etwas Konkretes vorauszusagen, denn es kann auf vielerlei Weise passieren. Was ich voraussagen kann ist, daß es schiefgehen wird, wenn es so weitergeht. Und daß die euroskeptischen Parteien weiter Zulauf bekommen werden.

Ist das gut oder schlecht?

Bolkestein: Schlecht natürlich.

Aber Sie sind doch selbst ein Euroskeptiker.

Bolkestein: Nein, ich bin wie die Professoren von der AfD ein Eurorealist. Mit Euroskeptikern meine ich Parteien wie den Front National oder die Ukip. Deren Vormarsch ist ein Warnsignal.

Inwiefern?

Bolkestein: Die Mehrheit der Bürger in den EU-Staaten will keinen EU-Bundesstaat. Aber die Funktionäre in Brüssel und die Mehrzahl der Parlamentarier in Straßburg ignorieren das einfach. Es gibt, wie gesagt, zu viele EU-Kommissare – so viele, daß diese nicht genug Arbeit haben, um ihren Arbeitstag auszufüllen. Doch viele von ihnen möchten bekannt werden – das wünschen sich ja generell die meisten Politiker. Und wie macht man das, wenn man eigentlich unterfordert ist, nicht genug Arbeit hat, um sich zu profilieren? Man startet Initiativen! Man mischt sich in alle möglichen Belange europäischen Lebens ein. Aber das ist dann genau die EU, die wir nicht haben wollen. Ihr Grundprinzip war einmal die Subsidiarität – offenbar ist das schon lange vergessen.

„Einmal wird der deutsche Steuerzahler rebellieren“

Sie sagen also der AfD wachsende Wahlerfolge voraus?

Bolkestein: Wenn sich nichts ändert ja, auf jeden Fall. Irgendwann werden auch die deutschen Steuerzahler rebellieren. Und was die übrigen Europäer nicht wollen, ist ein deutsches Europa. Sie sehen, es kann so nicht gutgehen.

Sie haben deshalb mit anderen europäischen Prominenten das „European Solidarity“-Manifest ins Leben gerufen.

Bolkestein: Das eine Aufspaltung der Gemeinschaftswährung in einen Nord- und Südeuro fordert.

Unter „Solidarität“ versteht die Politik in Deutschland allerdings genau das Gegenteil, nämlich Hilfe mit Rettungsschirmen.

Bolkestein: Ganz falsch, das wird am Ende nur zu Zwietracht und Zerwürfnis führen. Wenn wir den europäischen Zusammenhalt retten wollen, müssen wir wieder auf die Wünsche der Bürger hören und mit dem Lügen und Verträgebrechen aufhören. Wir müssen zurück zu unseren Werten, zurück zur europäischen Pacta-sunt-servanda-Kultur. Sonst sehe ich schwarz für Europa.

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Prof. Dr. Frits Bolkestein hatte von 1999 bis 2004 den zentralen Posten des EU-Kommissars für den Binnenmarkt, Steuern und die Zollunion inne. Zuvor führte der Rechtsliberale von 1990 bis 1998 die Parlamentsfraktion der jetzigen niederländischen Regierungspartei VVD. Von 1988 bis 1989 war er Verteidigungsminister und von 1982 bis 1986 Handelsminister Hollands. Über zwanzig Jahre saß er für die Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (Volkspartei für Freiheit und Demokratie) in der „Zweiten Kammer der Generalstaaten“ – dem niederländischen Parlament –, bevor ihn Kommissionspräsident Romano Prodi als EU-Kommissar berief.

In dieser Eigenschaft setzte er die Europäische Dienstleistungsrichtlinie durch – auch „Bolkestein-Richtlinie“ genannt. Inzwischen macht sich der ehemalige Vorsitzende der „Liberalen Internationalen“ einen Namen als EU- und Euro-Kritiker. Dazu unterstützt er unter anderem das Projekt „European Solidarity“, das für eine Umkehr in der Euro-Rettungspolitik wirbt. Geboren wurde Frits Bolkestein 1933 in Amsterdam.

EU- und Eurokritiker Frits Bolkestein: Scheitert der Euro, wird weder die Wirtschaft zusammenbrechen, noch wird es Krieg geben Foto: picture alliance/dpa/dpaweb
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