Am Reformationstag feiern evangelische Christen nicht die Grundlegung einer Kirche, sie feiern die Geburtsstunde einer Konfession, also einer Gruppe, die sich weiterhin als Teil der einen Kirche versteht und nicht darauf angewiesen ist, von Rom „anerkannt“ zu werden. Bestimmte biblisch begründete Bekenntnisse stellt sie in ihr Zentrum.
Es sind theologische Aussagen und Glaubenssätze, die dieser Gemeinschaft besonders wichtig sind und sie konstituieren: die Bibel als einzige Quelle der Gottesoffenbarung, die Gnade Gottes als einzige Beurteilungsinstanz des ewigen Heils, der Glaube als einzig mögliche innere wie äußere Haltung, sich Gott zu nähern. Dabei gilt für alle Lebenszusammenhänge: Evangelische Christen orientieren sich allein an Jesus Christus, an seiner Unmittelbarkeit zu Gott und zu den Menschen.
Dies vorausgeschickt, gibt das Reformationsfest Anlaß, über das Verhältnis zu anderen Konfessionen nachzudenken und immer wieder zu prüfen, welche Gemeinsamkeiten bestehen beziehungsweise welche Gegensätze (noch) nicht überwunden sind. Und was liegt näher für evangelische Christen im Geburtsland der Reformation, als diese Fragen mit der römisch-katholischen Kirche zu diskutieren.
Die Spaltung der Christenheit ist ein Ärgernis
Das ist kein Selbstzweck, sondern eine Sache höchster Dringlichkeit, denn die Spaltung der Christenheit ist ein Ärgernis mit praktischen, oftmals schmerzlichen Konsequenzen für ihre Glieder bis in die Familien hinein.
In dieser Diskussion muß zunächst einmal jede Seite die andere ernst nehmen und ihr zubilligen, daß sie ihre Überzeugung in Verantwortung vor Gott und ihren verfaßten Bekenntnissen vertritt. Dabei ist es auch unerläßlich, mit einer Zunge zu sprechen, um zu wissen, mit wem und womit man es zu tun hat.
Nun hatte der Besuch des Papstes in Deutschland in einigen Kreisen, vor allem beim Kirchenvolk, gewisse Hoffnungen auf eine weitere Annäherung beider Konfessionen geweckt. Diese wurden nicht erfüllt. Die Vertreter der EKD mit Präses Schneider an der Spitze waren enttäuscht, denn in Sachen eines gemeinsamen Abendmahls, welches ja vor allem auch konfessionsverschiedene Ehen betrifft, gab es keine Annäherung.
Grundsätzliches aus Rom, Unklarheit der evangelischen Seite
Warum? Diese oft gestellte Frage übersieht zum einen die grundsätzliche Position Roms und verwischt gleichzeitig die Tatsache, daß die evangelische Seite, wie sie von der EKD vertreten wird, es an Klarheit vermissen läßt.
Das Abendmahl oder die Eucharistie ist nämlich nicht irgendeine Nebensache, die vielen Deutungen offensteht. So wird und kann Rom niemals einem bloßen Gedächtnismahl im reformierten Verständnis zustimmen, so „vernünftig“ das vielen Zeitgenossen erscheinen mag.
Auch die Lutheraner müssen nach ihrer Sicht dieser bloßen „geistlichen“ Gegenwart des auferstandenen Herrn widersprechen. Ihre „Augsburger Konfession“ erklärt auf Grund der Heiligen Schrift (sola scriptura), daß Leib und Blut Jesu Christi wahrhaftig in Brot und Wein gegenwärtig sind (vere adsint). Wenn es also hier eine Annäherung geben könnte, so nur dann, wenn die EKD eindeutig die lutherische Position vertritt. Das jedoch hat sie nicht zu erkennen gegeben.
Aber die Abendmahlsfrage ist ja nur eine unter anderen, die einer weiteren Annäherung beider Konfessionen entgegenstehen. Gerade am Reformationsfest müssen die Evangelischen sich fragen lassen, inwieweit sie noch auf dem Boden ihrer eigenen Bekenntnisse stehen, und da sind erhebliche Zweifel anzumelden.
Beschlüsse und Erklärungen im Widerspruch zur Heiligen Schrift
Seit Jahren werden von zahlreichen Leitungsgremien evangelischer Kirchen unter dem Druck gesellschaftspolitischer Gruppierungen und politischer Bewegungen Beschlüsse gefaßt und Erklärungen abgegeben, ohne daß es dafür eine Begründung im Wort Gottes und in den Bekenntnissen gibt. In den meisten Fällen geschieht das sogar in offenem Widerspruch zum klaren Zeugnis der Heiligen Schrift.
Vor allem geht es dabei um das Verhältnis von Mann und Frau sowie um den Bereich von Ehe und Familie. Die Öffnung der Pfarrhäuser für gleichgeschlechtliche Partner wird sich noch zu einer Zerreißprobe in der evangelischen Kirche selbst entwickeln. Man kann dies alles wohl nur als Abfall von den Grundlagen christlicher Gemeinschaft bezeichnen und dafür zunächst ganz allgemein die Anpassung an den Zeitgeist nennen.
Eine solche evangelische Kirche – oder besser gesagt – die EKD als Zusammenschluß lutherischer, reformierter und unierter Landeskirchen hatte sich nun auf geschichtsträchtigem „lutherischem“ Boden im Erfurter Augustinerkloster mit dem Papst getroffen. Ist es da im Hinblick auf ihren Zustand verwunderlich, daß der Bischof von Rom äußerste Zurückhaltung in der Frage einer weiteren Annäherung walten ließ?
Die Erinnerung an den 31. Oktober 1517 birgt hoffentlich das Risiko der Selbsterkenntnis in sich. Denn der Reformationstag fragt auch, wie es denn mit der Kirche heute steht, wovon sie sich heute in ihrem Handeln leiten läßt, was sie zu den Fragen der Zeit zu sagen hat und welche Rolle das Wort Gottes dabei spielt. Es erinnert daran, daß kirchliches Reden und Handeln immer reformbedürftig ist, um sich selbst und Gott treu zu bleiben.
JF 44/11