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Die Kühle der dritten Generation

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Die Kühle der dritten Generation

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Vor vier Jahren brach unter den Historikern des deutschen Widerstands gegen Hitler die Frage auf, wann die Offiziere um Henning von Tresckow im Stab der Heeresgruppe Mitte von den Verbrechen der SS im rückwärtigen Gebiet erfuhren, wie sie darauf reagierten und wann sie den Entschluß zur Verschwörung faßten.

Die Frage ist wichtig, weil damit ihre Beweggründe in den Blick kommen. Das war so eben auch der Fall auf einer von Joachim Scholtyseck im Bonner „Haus der Geschichte“ ausgerichteten Tagung der „Forschungsgemeinschaft 20. Juli 1944“.

Johannes Hürter, ein jüngerer Historiker am Münchner Institut für Zeitgeschichte und Autor eines vielbeachteten Buches über die Oberbefehlshaber des Heeres im ersten Jahre das Rußlandkrieges, hatte den Streit in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte“ (1/2004) mit dem Vorwurf eröffnet, die Verschwörergruppe habe verheimlicht, daß sie schon im Sommer 1941, wesentlich früher als bisher aus ihrem Kreise dargestellt, von den Massenmorden der Einsatzgruppen der SS hinter der Front gewußt, ihrem Treiben zugesehen und sich erst im Oktober 1941 von dem Massaker von Borissow zum Widerstand habe aufrütteln lassen.

Zwei bislang unbekannte Dokumente

Hürter legte dazu zwei bislang unbekannte Dokumente, Kopien aus Beständen eines sowjetischen Archivs, vor, die belegen, daß Rudolf-Christoph von Gersdorff, Feindnachrichten-Offizier (Ic/AO) und Henning von Tresckow, der Erste Generalstabsoffizier (Ia) im Stab der Heeresgruppe, im Juli 1941 zwei Wochen-statistiken Arthur Nebes über die Tötung politischer Kommissare, Partisanen und Gruppen jüdischer Zivilpersonen, im rückwärtigen Gebiet der Heeresgruppe, erhalten, den ersten gelesen und unkommentiert abgezeichnet hatten und den zweiten an die unterstellten Armee-Oberkommandos 2, 4, 9, Guderian, die Panzer-Gruppe 3 und den Befehlshaber des rückwärtigen Heeresge-biets Mitte weitergeleitet und im Begleitschreiben festgestellt haben:  „Aus einem Bericht der Einsatzgruppe B werden anliegende Auszüge zur Kenntnis gebracht mit der Bitte um ent-sprechende Maßnahmen in den Armeebereichen bzw. in rückwärti-gen Heeresgebiet, soweit die Truppe beteiligt ist.“  Unter-zeichnet: „Für das Heeresgruppenkommando Mitte, Der Chef des Generalstabes     I.A.v.G[ersdorff],    Major i.G.“

Dazu ist zunächst zu sagen, daß es sich um Fotokopien von Originalen handelt, deren Aufenthaltsort unbekannt und deren Echtheit unverbürgt ist. Das erste der beiden Dokumente hat Hürter als „polizeilicher Tätigkeitsbericht der Einsatzgruppe B für das Heeresgruppenkommando Mitte für die Zeit von ca. 9. bis 16. Juli 1941“ bezeichnet (dies ist aus dem Stück in sei-ner von Hürter – nicht diplomatisch genau – abgedruckten Fassung selbst nicht zu entnehmen, woher Hürter es weiss, ist unklar); das zweite sind, wie das Begleitschreiben feststellt, „Auszüge“ aus einem Bericht der Einsatzgruppe B, ohne Angabe, an wen der Bericht der Einsatzgruppe B gerichtet war, wie er in den Besitz des Oberkommandos der Heeresgruppe Mitte gekommen war und wer die Auszüge hergestellt hat.

Rasche Operationen und Vormärsche
 
Zwar sind in dem ersten Bericht den Zahlen nach vor allen Juden erschossen worden, doch sind sie auch als Plünderer und Partisanenhelfer bezeichnet. Die Gesamtzahl – mehr als 1.100 gegenüber rund 100 nichtjüdischen Plünderern, und Spionen– scheint hoch; aber die Gesamtsituation im Juli 1941 – rasche Operationen und Vormärsche, chaotische Zustände in den bis 1939 polnischen Grenzregionen, entdeckte Massenmorde des NKWD, „angeregte“ oder spontane Pogrome aus der Bevölkerung, Racheakte, Morde, Verstümmelungen an deutschen Kriegsgefangenen und Verwundeten – mag Gersdorff erlaubt haben, die Erschiessungen in einem weiten Raum noch als kriegsbedingt anzusehen. Das ist freilich ebenso eine Vermutung wie die, daß er vollständig über das in Gang befindliche Mordprogramm gegen die Juden unterrichtet gewesen sei.  

Die Entdeckung dieser beiden Dokumente widerspricht jedenfalls einer Passage in den Erinnerungen Gersdorffs, daß das Massaker der SS bei Borissow (21/22. Oktober 1941) ihm und seinen Freunden zum ersten Mal die Verbrechen der SS bekannt gemacht habe. Die Erinnerungen Schlabrendorffs vermitteln den gleichen Eindruck, ohne daß er ebenso bestimmt formulierte. Dem Massa-ker fiel die gesamte jüdische Bevölkerung der Stadt zum Opfer, Männer, Frauen, Kinder, über 7.000 Personen.

Kontaktaufnahme zu Angehörigen ziviler Widerstandskreise

Hürter meint, den beiden Offiziere vorwerfen zu dürfen, sie hätten zu verstecken versucht, daß sie schon aus Nebes Berichten im Juli von großen Mordtaten seiner SS-Verbände erfahren hatten, ohne darauf zu reagieren. Das Gewissen Tresckows und Gersdorff, so wiederholte Hürter auf der Bonner Tagung, habe sich erst mit Verzögerung zu Wort gemeldet, erst nach Borissow im Oktober 1941, als sich auch die Kriegslage im Osten verschlechtert und es keine Aussicht mehr auf einen raschen Zusammenbruch der sowjetischen Verteidigung gegeben habe.

Dem läßt sich entgegen halten, daß der Vormarsch der Heeresgruppe Ende September wieder vorankam, als Tresckow seinen Vertrauten Schlabrendorff nach Berlin schickte, um Kontakt zu den Angehörigen ziviler Widerstandskreise zu suchen – also drei Wochen vor Borissow und dann auch dem Stillstand vor Moskau.  

Doch wirklich neu war im Jahre 2004 eigentlich nicht, was Hürter gefunden hatte. Wesentlich gröber hatte schon Christian Gerlach in den neunziger Jahren in dem Begleitbuch zu der Ausstellung von Hannes Heer über „Verbrechen der Wehrmacht“ Tresckow und Gersdorff als Komplizen der SS vom ersten Kriegstag an dargestellt. Und lange vor Gerlach hatte Hans Mommsen, freilich subtiler, gemeint, Tresckow sei 1941 zu seinen Protesten bei Feldmarschall von Bock weniger von moralischen Motiven bewegt gewesen als von dem Verlangen nach besserer Kriegsführung durch Verdrängung Hitlers aus der unmittelbaren Führung von Operationen.

Entschluß zur Verschwörung nicht im Kriegstagebuch vermerkt

Die Verschwörergruppe um Tresckow war immerhin so klug, oder gegenüber manchem ihrer heutigen Kritiker so unklug, weder den Entschluß zur Verschwörung noch die Gründe im Kriegstagebuch der Heeresgruppe vermerken zu lassen. Mißlich ist auch, daß das im Freiburger Militärarchiv aufbewahrte Kriegstagebuch der Heeresgruppe Mitte Lücken enthält.

Eine klafft ausgerechnet in den Monaten Juni und Juli 1941. Aus dem Umstand, daß es in Nebes Tötungsstatistik außer Tresckows Paraphe und Gersdorffs Addition der Opfergruppen – diese „Addition“ wurde bisher nicht erklärt und wird vielleicht nie mehr zu erklären sein – nichts Weiteres zu lesen gibt, kann man weder schließen, daß sie dazu geschwiegen haben.

Jedenfalls aber bestellte der Oberbefehlshaber der Heeresgruippe, Feldmarschall von Bock, sich im August Nebe ins Hauptquartier und bat um Auskünfte. Nach diesem Gespräch meldete Nebe in seinen Wochenmeldungen der Heeresgruppe geringere Zahlen getöteter politischer Kommissare, Freischärler und jüdischer Bolschewisten als gegenüber Heydrich und Himmler im Reichsicherheitshauptamt. Welche Zahlen waren „getürkt“, und warum wohl?

Lehrstunde über den Umgang mit Quellen

Hermann Graml nutzte seinen Vortrag auf der Bonner Tagung zu einer Lehrstunde über den Umgang mit Quellen und über Probleme mit Zeitzeugen. Nicht nur Zeugen können sich irren oder lügen, auch Akten können das, weil sie Urheber haben, die Zwecke und Interessen im Kopfe haben. Im Falle gravierender Widersprüche, erst recht in Zeiten einer teuflischen Diktatur, neige er, Graml, als alter Mann dazu, eher seinem eigenen Eindruck von der Person, die er befragt habe, als einem entgegenstehenden Aktenstück zu trauen.

Junge Zeithistoriker, die teuflische Zeiten nicht selbst zu erleben brauchten, sehen das anders. Daß sie aus größerer Distanz auf die hinterlassenen Akten schauen, gibt ihnen Unbefangenheit, aber erschwert ihnen auch das unmittelbare Verständnis aus eigenem Erleben.

Hürter wollte sich in der Bonner Diskussion gar nicht auf eine Diskussion über die Bedeutung von Paraphen einlassen, von denen Gerlach so viel hergemacht und Mommsen sich seinerzeit sehr beeindruckt gezeigt hatte. „Das ist vorbei“. Aber im Streit um das Vorher und das Nachher und um die Behauptung „verzögerter“ moralischer Reaktion wich er nicht zurück, ohne anscheinend zu bemerken, daß ihm auch unter Verzicht auf einen Paraphen-Streit die Dokumente fehlen, die beweisen könnten, was er für erwiesen hielt.

Unzulässige Verengung

Rolf-Dieter Müller meinte, es habe wenig Sinn, „mit der Lupe“ danach zu suchen, wann in der Widerstandsbewegung zum ersten Mal das Stichwort „Judenmord“ fällt. Das verenge in unzulässiger Weise die Beantwortung der Frage nach der moralischen Qualität der Widerstandsbewegung.

Peter Hoffmann hatte keine Mühe, aus seiner großen Kenntnis des gesamten Stoffes darzulegen, daß das moralische Motiv der Widerstandsbewegung in allen Etappen, von ihren Anfängen an, bis zum 20. Juli 1944, nachweisbar ist.

Bei Tresckow beginnt der Prozeß bei Hitlers „Röhmputsch“ (1934). Fast alles, was Widerständler in den Widerstand führte, hatte eine moralische Qualität: die Kritik an Hitlers Außenpolitik aus Verantwortung  für das eigene Volk und die Nachbarvölker, das Verlangen nach Wiederherstellung des Rechtsstaates, das Entsetzen über die Außerkraftsetzung von Grundregeln der Haager Landkriegsordnung, die Pflicht von Offizieren zur Aufrechterhaltung der „Manneszucht“ in der Truppe.

Wäre es gelungen, die Rechtsordnung zu bewahren und in den Streitkräften das normale Kriegsvölkerrecht in Geltung zu halten – was nur mit geschlossenem Auftreten der Feldmarschälle und Armee-Oberbefehlshaber gegenüber Hitler hätte erzwungen werden können – dann wären unter dem Schutz der Rechtsordnung auch die Juden geschützt geblieben, ohne besonders von ihnen zu reden.

Versuch, den „Kommissarbefehl“ zu umgehen

Tresckow dachte so vor Beginn des Rußlandfeldzuges und auch danach. Für beides gibt es deutliche Hinweise. Anfang Mai 1941, etwa sechs Wochen vor dem Angriff, so berichtet Hitlers Heeresadjutant Major Gerhard Engel in seinen Erinnerungen, habe im Tresckow gesagt, er werde die Divisionskommandeure mündlich bewegen, den „Kommissarbefehl“ – den Befehl der Heeresführung, gefangengenommene politische Führungsoffiziere der Roten Armee – auf der Stelle zu erschießen, zu umgehen. Denn „wenn Völkerrecht gebrochen wird, sollen es die Russen selber tun, und nicht wir!“     

Und für die beiden Monate Juni und Juli 1941, für die das Kriegstagebuch der Heeresgruppe Mitte vermißt wird, und in denen Tresckows moralische Aufmerksamkeit geschlafen haben soll, gibt es aufschlußreiche Einträge im „Kriegstagebuch des Kommandostabes Reichsführer SS“, das schon Gerlach benutzt hatte, freilich ohne die Pointe zu erkennen.

In dem SS-Kriegstagebuch ist nachzulesen, daß Tresckow und Kurt Knobloch, der „Chef des Kommandostabes Reichsführer SS“, sich am 19. Juni 1941 über die Verwendung zweier SS-Brigaden und zweier SS-Kavallerie-Regimenter im Gebiet der Heeresgruppe Mitte verständigten.

Die vier Verbände wurden dem Kommando der XXXXII. Armee unterstellt. Das Armeekommando setzte sie nach Beginn des Angriffs am 22. Juni wie gewöhnliche Truppen des Heeres zur Sicherung der Versorgungslinien im Hinterland ein. Fünf Tage später wurde Himmler darauf aufmerksam und entzog seine Truppe sofort der XXXXII. Armee, da ihre Verwendung „den allgemeinen Abmachungen widerspricht“ und er „sie für andere Aufgaben benötigt“.

„Allgemeine Abmachungen“ über „Sicherungsaufgaben“ der SS

Mit den „allgemeinen Abmachungen“ waren die Verabredungen zwischen Heydrich und dem Generalquartiermeister des Heeres, General Wagner, vom März und April 1941 über die „Sicherungsaufgaben“ der SS gemeint, die ominösen Tarnbezeichnung für die den Einsatzgruppen aufgetragenen Verbrechen.

Dem Kriegstagebuch des SS-Kommandostabes ist zu entnehmen, daß Tresckow umsichtig, unter listig-wörtlichem Gebrauch auch an-ders auslegbarer Begriffe wie „Sicherungsaufgaben“ oder Bekämpfung von Freischärlern die SS-Verbände mit normalen militärischen Bewachungsaufgaben zu beschäftigen suchte, um ihnen keine Gelegenheit zu geben, die Untaten zu begehen, für die Himmler sie „benötigte“.

Die Bonner Tagung gab Einblick in den Stand der Widerstands-forschung und des Streites zwischen jüngeren und den älteren Zeithistorikern. Er legt nahe, von einer Regression des Forschungsinteresses zu sprechen. Der ersten Generation, zu der Hans Rothfels und Gerhard Ritter, auch Eberhard Zeller zähl-ten, hat die zweite, vertreten vor allem von Martin Broszat und Hans Mommsen, vorgeworfen, die Männer des Widerstands als Helden und Heilige dargestellt zu haben.

Die „Historisierung“ hat dem Bild des 20. Juli gut getan

Die zweite Generation fing damit an, die Widerstandsbewegung zu „historisieren“ und ihre Mitglieder realistisch als Individuen, auch in ihren „national-konservativen“, ständischen, sozial-utopischen, demokratie-skeptischen Befangenheiten samt einem verbreiteten „Feld-Wald-und Wiesen-Antisemitissmus“ (Klemens von Klemperer) zu beschreiben, auch ihrer anfänglichen Unterstützung der „nationalen Erhebung“ Hitlers.

Die „Historisierung“ hat dem Bild des 20. Juli gut getan, weil sie die Länge und die Schwierigkeit des Weges zur Sprengung der Fesseln von Gehorsam und Eid und zur Bereitschaft zu Hoch- und in einigen Fällen, sogar zu „Landesverrat“ um des Landes willen zeigte. Das macht den ganzen Prozeß ihrer Umorientie-rung noch staunenswerter.

Nun aber, in der dritten Forscher-Generation, wird der Widerstand auf das Stichwort „Judenmord“ abgesucht. Damit geht die Reise wieder in die moralistische Verengung, jetzt freilich nicht mehr zur Verherrlichung von Helden, sondern zur Entdekung vermuteter moralischer Defizite. Man täte Hürter und manchen anderen, die sich von seinem Argument beeindrucken lassen, Unrecht, wenn man meinte, das sei ihre Absicht. Auch ist ja der Abstand, der Hürter von Gerlach unterscheidet, nicht zu übersehen.

Bild des militärischen Widerstands droht sich zu verdüstern

Aber es überrascht doch die Kühle, um nicht zu sagen die Gefühllosigkeit, mit der vermeintlich penibel das Gelände des Widerstands nach Spuren des Antisemitismus abgesucht wird, statt sich realistisch mit den Umständen und den Grenzen zu beschäftigen, unter denen Widerstand möglich war. Die im Ablauf der Zeit zunehmende Verdüsterung des Bildes der Wehrmacht droht jetzt auch das Bild des militärischen Widerstands zu verdüstern.

Die Widerständler haben indessen vor ihren hyperkritischen und allzu aktengläubigen Kritikern etwas voraus, was diese nie einholen können. Sie haben für die Wiederherstellung des Rechtsstaates den höchsten Preis eingesetzt, den es gibt, und ihn auch zahlen müssen. Sie haben damit bezeugt, wer sie waren und was sie glaubten. Dies wiederum gibt uns das Recht, im Falle unerklärlicher Vorgänge oder punktueller Widersprüche in der Quellenlage eher ihnen selbst zu vertrauen als den hinter-lassenen Akten.

(Bei dem Text handelt es sich um die Langfassung des in der JUNGEN FREIHEIT vom 7. März auf Seite 17 abgedruckten Artikels)

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