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Richtiges Erinnern für die gewünschte Identität

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Włodzimierz Borodziej (Warschau), Gertrud Pickhan (Berlin), François Hartog (Paris) und Moshe Zuckermann (Tel Aviv): Geschichtspolitik für einen Opfer- oder Schuldstolz

Ein Lehrbeispiel dafür, wie es wissenschaftlichen Diskursen schadet, wenn sich Vertreter der Politik in sie einmischen, gab eine dreitägige Konferenz im Deutschen Historischen Museum in Berlin ab. Rund um den deutschen Schicksalstag des 9. November debattierten Historiker aus Deutschland, Polen und Frankreich über „Strategien der Geschichtspolitik in Europa seit 1989“. Ziel war es, das Phänomen der Geschichtspolitik theoretisch zu erörtern als auch dessen Merkmale in den drei Ländern vergleichend zu beschreiben. Veranstaltet wurde das Symposium federführend vom Zentrum für Historische Forschung, einer Berliner Außenstelle der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Wo steht Deutschland in Fragen der Geschichtspolitik? Antwort: Deutschland steht nicht. Den farbigen Programmzettel zierten drei Fotos, die den charakteristischen Zugang der jeweiligen drei Länder zu ihrer Geschichte symbolisieren: Frankreich läßt sich durch das Pariser Panthéon vertreten, die Ruhmeshalle für seine Geistesgrößen, Polen durch das Warschauer Denkmal für die im Osten Gefallenen und Ermordeten, gewidmet den zu Hunderttausenden in die Sowjetunion Deportierten, und Deutschland – präsentiert sich durch das Holocaust-Mahnmal.

Den Auftakt zur Tagung bildete eine Podiumsdiskussion mit „bedeutenden Gestaltern der Geschichtspolitik“. Polen hatte gleich drei Interessenvertreter aufzubieten: den soeben abgewählten polnischen Kulturminister Kazimierz Ujazdowski, den Bundestagsvizepräsidenten Wolfgang Thierse und die gescheiterte Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan. Soll der Staat Geschichtspolitik treiben oder nicht? Während der französische Botschafter Bernard de Montferrand dafür warb, Historiographie als unabhängige Disziplin zu betrachten, und nebenbei souverän erklärte, er könne nicht seine „Zeit damit vertun“, sich „für die Taten Ludwigs des XIV. in Deutschland zu entschuldigen“, sprach Thierse von „Ambivalenzen“ im deutschen Verständnis von Geschichtspolitik. Vergangenheit zu instrumentalisieren, dürfe nicht sein, doch der Staat treffe ständig geschichtspolitische Entscheidungen: Die Stasi-Akten zugänglich zu machen oder in der Mitte der deutschen Hauptstadt das Denkmal für den Holocaust zu errichten, waren solche Verfügungen. „Das ist keine Verordnung eines Geschichtsbildes, sondern eine Einladung. Wie kommende Generationen damit umgehen, können wir nicht voraussehen.“

Bei deutsch-polnischen Reizthemen ging man sofort in medias res: nach einer Steilvorlage von Schwan – „Man muß als Deutscher ja zuerst mal die schwierigen Seiten der Geschichte sehen“ – rannte der nationalpolnische Ujazdowski, Mitglied der Kaczyński-Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), offene Türen ein mit der These, die Deutschen betrieben eine Revision der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, der Polen mit überlegter Geschichtspolitik entgegentreten müsse. Der Sündenbock war gleich benannt: Die abwesende Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, diente wieder einmal als rotes Tuch und dankbares Feindbild. „Wegen deutscher Schuld müssen wir die ganze Zeit über das sogenannte Vertriebenenzentrum reden.“

Thierse versuchte vergeblich, Ujazdowskis Groll mit Unterwürfigkeit zu beschwichtigen: In einem wie auch immer gearteten „sichtbaren Zeichen“ ohne Steinbachs Anteil werde deutlich werden, „daß wir Deutschen die Schuldigen in diesem Prozeß sind“, „daß der Anteil deutscher Schuld ausdrücklich nicht verschwiegen“, „daß deutsche Schuld angemessen dargestellt wird“. Polnische und tschechische Historiker forderte er zur Mitarbeit an einer europäisierten Gedenkstätte auf: „Mit dem Versuch, Vertreibung in unsere nationale Erinnerung zu integrieren“, wollten wir „nicht allein gelassen werden“. Schwan erteilte revisionistischen Überlegungen, ob die NS-Herrschaft Ursache oder bloß Anlaß für die Vertreibungen war, eine Absage, da sie „unser Schuldgefühl, unsere Würde“ berührten. Ujazdowski dankte denn auch „sehr dafür, daß es in der deutschen Politik solche Menschen gibt wie pani Schwan“.

In den – weit wissenschaftlicheren – Beiträgen der Historiker wurde archetypisch deutlich, wie verschieden der Zugang zur nationalen Überlieferung in den drei Ländern ist. Deutsche Zeitgeschichtler wie Edgar Wolfrum (Heidelberg) bemerkten mit Unbehagen ein seit 1989 in ganz Europa wiedererwachendes Interesse an der Nation, Gertrud Pickhan (Berlin) bemängelte die tatkräftige Mithilfe der Historikerzunft bei der „Konstruktion“ von Nationen und warf ihnen vor, sich als „Fluchthelfer vor der komplizierten Welt“ zu betätigen; „Leitkultur“ nannte Wolfrum einen „ganz schwierigen Begriff“ und warf statt dessen die Frage nach der „europäischen Basis-Erzählung“ auf: Wann könne „eine Türkin Deutsche werden – wenn sie den Holocaust als eigene Identität annimmt?“

Konkurrenz der Opfer hat seit 1990 Konjunktur

Wojciech Roszkowski dagegen, EU-Abgeordneter der PiS, wies solcherart Zweifel zurück und konstatierte stolz: „Wir haben, um die Zukunft zu bewältigen, nichts anderes als die Vergangenheit, auf die wir uns stützen können.“ Ausdrücklich bekräftigte er die Verantwortung des polnischen Staates für das Geschichtsbewußtsein seiner Bürger. Einem einheitlichen EU-Geschichtsbuch –Wolfrum arbeitet für den Klett-Verlag an dem Projekt – konnte Roszkowski nichts abgewinnen: Wenn man das nationale Erinnern bekämpfe, könne es keine europäische Identität geben – „die entsteht nur aus nationalen Entitäten“.

Ein weiterer Aspekt der durchweg aufschlußreichen Tagung war die Diskussion um „neue Opfergruppen“: „Auschwitz und Kolyma“. Die Konkurrenz der Opfer habe seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Konjunktur, referierte Włodzimierz Borodziej (Warschau). Deutsche Reaktionen auf das „Schwarzbuch des Kommunismus“ zeigten, daß „neue“ Opfergruppen um die Anerkennung ihres Opfer-Seins kämpfen müßten, hier werde einem nichts geschenkt. Ganz anders die Situation in den baltischen Staaten oder Ungarn: Dort sind die Opfer beider Totalitarismen des 20. Jahrhunderts gleichgestellt.

Moshe Zuckermann (Tel Aviv) steuerte Beobachtungen aus Israel bei, wo der Holocaust sehr unterschiedlich wahrgenommen werde. So fragten russische Einwanderer: „Was? Sechs Millionen? Wir kommen aus einem Land, wo …“, und das atemlos lauschende Publikum ergänzte mit seinem historischen Wissen. „Die Leute von Yad Vashem schreien immer auf, wenn von der armenischen Shoa die Rede ist. Welcher Zacken fällt denen aus der Krone, wenn man anerkennt, daß sich dort eine weltgeschichtliche Katastrophe ereignet hat?“ Die Seelengröße dieses Israeli wünschte man Nationalisten vom Schlage Ujazdowskis wie den Schwans und Thierses gleichermaßen.

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