Gemäß Clausewitz ist in jedem Krieg eine Tendenz wirksam, die Gewaltanwendung wechselseitig soweit zu eskalieren, daß jede hemmende Rücksicht auf politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche und ethische Gesichtspunkte entfällt. Dermaßen „absolut geworden, verfehlt ein Krieg aber zwangsläufig seinen politischen Zweck und degeneriert zu einem Akt der Vernichtung um der Vernichtung selbst willen.
Es gibt somit ein objektives Interesse jedes Kriegführenden, gewisse ‚Hemmungen‘ bei der wechselseitigen Gewaltanwendung aufrechtzuerhalten, um die unabsehbaren und unbeherrschbaren Folgen ihrer Eskalation zu vermeiden. Soweit seine Gegner bereit sind, dies auch zu tun, kann auch im Krieg ein System von Regeln über erlaubte und unerlaubte Verhaltensweisen im Kriegsvölkerrecht (ius in bello) Anerkennung finden.“
Daß Kriege schnell aus dem Ruder laufen können, ist eine alte Erkenntnis. Fast alle Kulturen kannten und kennen deshalb „Gesetze des Krieges“, welche ihm gewisse Einschränkungen auferlegen oder die Standards einer „ehrenhaften“ Form der Kriegführung definieren, solange eine gewisse Gegenseitigkeit erwartet werden kann. Wie diese Regeln im einzelnen aussahen, bestimmten eine Vielzahl von militärischen und politischen Interessen, aber auch kulturelle Traditionen und historische Erfahrungen.
Doch gab vor allem das mehr oder minder aufgeklärte Eigeninteresse der Kriegführenden an der Vermeidung sinnloser Gewalteskalationen den Ausschlag, wieweit eine „Hegung“ des Krieges tatsächlich gelang. In den „rationalen“ Kabinettskriegen des 18. Jahrhunderts, geführt von kleinen Berufsarmeen, konnte auf der Basis einer statischen Militärtechnologie und Gesellschaftsordnung auch tatsächlich eine weitgehende Hegung realisiert werden.
Jeder europäische Staat besaß das anerkannte ius ad bellum, das Recht, seine Interessen notfalls auch durch kriegerische Gewaltanwendung zu verfolgen, und hatte so ein unmittelbares Interesse an der Aufrechterhaltung eines ius in bello, das die Gewaltanwendung in Grenzen hielt und das Kriegführen politisch beherrschbar machte.
<---newpage---> Den Krieg kalkulierbar halten
Doch die sozial-politische und technisch-industrielle Dauerrevolution in Europa und Nordamerika seit dem Ende des 18. Jahrhunderts änderte das zuvor nahezu statische Kalkül des Kriegführens grundlegend, indem sie ständig neue Variablen in die Gleichung einführte.
Die Mobilmachung der Völker nach 1789 verschaffte den Kriegen in Europa „Menschenmaterial“ im Überfluß; vor allem aber setzte mit der industriellen Revolution ein bis heute andauernder Prozeß der Vermehrung der für Kriegszwecke brauchbaren ökonomischen und technischen Ressourcen ein, der einen Krieg in einen völlig unkalkulierbaren Vernichtungsakt von gigantischen Dimensionen zu verwandeln vermochte.
Die Gleichung des Krieges trotz der laufend neu hinzukommenden Variablen weiterhin kalkulierbar zu halten, lag zwar weiterhin im Interesse der Staaten. Zugleich aber boten sich für die Großmächte immer wieder Chancen, im Wettlauf der Innovationen neue militärische Optionen zu erwerben und damit ihre relative Macht zu steigern, eine Versuchung, der sie meist nicht widerstehen konnten.
Es verwundert nicht, daß man auf die Idee verfiel, die bislang errungenen Erfolge bei der „Hegung“ des Krieges schriftlich zu fixieren, in der Hoffnung, diese trotz der Dynamik des militärtechnischen Fortschritts aufrechterhalten oder gar noch verbessern zu können. Daß bei den Anläufen zu einer förmlichen Kodifizierung des ius in bello neben staatlichen Eigeninteressen im engeren Sinne auch humanitäre Motive wirksam waren, ist unbestritten. Dies zeigte sich nicht nur bei der Gründung des Roten Kreuzes und dem Abschluß der Genfer Abkommen von 1864 und 1868 zum Schutze der Verwundeten und Kranken im Felde. Im Kern ging es aber darum, die bereits informell und gewohnheitsrechtlich etablierten Standards „zivilisierter“ Kriegführung in die Moderne hinein zu retten.
<---newpage---> Vier tragende Prinizipien des Völkerrechts
Zurückverfolgen lassen sich Versuche zu einer umfassenden Kodifizierung der „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Bereits 1874 hatten auf der Brüsseler Konferenz Vertreter von 15 europäischen Staaten einen Entwurf für eine entsprechende Deklaration erarbeitet, der aber von keiner Seite ratifiziert wurde. 1899 gelang es dann auf der ersten Haager Friedenskonferenz, ein weitgehend am Brüsseler Vorbild orientiertes „Abkommen betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges“ abzuschließen, dem die meisten unabhängigen Staaten tatsächlich auch beitraten.
Auf der zweiten Friedenskonferenz von Den Haag 1907 wurde dieses Abkommen in einer leicht modifizierten Form nochmals von der Mehrzahl der am Abkommen von 1899 beteiligten Mächte (darunter auch das Deutsche Reich) angenommen. Der Gesamtkomplex der ersten umfassenden schriftlichen Fixierung des Landkriegsrechtes in diesen beiden völkerrechtlichen Abkommen ist als „Haager Landkriegsordnung“ (HLO) bekannt geworden und immer noch in weiten Teilen geltendes Völkerrecht.
Die zentrale Leistung der HLO und der auf ihr aufbauenden späteren Abkommen war die Herausarbeitung von vier tragenden Prinzipien des Kriegsvölkerrechtes: Limitierung der Gewaltanwendung zur Vermeidung unnötigen Leidens, Beschränkung der Gewaltanwendung auf das militärisch Notwendige, Verhältnismäßigkeit der jeweiligen Gewaltanwendung im Hinblick auf das jeweils angestrebte Ziel und Unterscheidungspflicht zwischen Kombattanten und militärischen Zielen sowie Non-Kombattanten und zivilen Nicht-Zielen.
Die Bestimmungen der HLO setzten sowohl durch die Definition des legitimen Kombattanten und für die Behandlung der Kriegsgefangenen, aber auch für die Ausübung der militärischen Gewalt in besetzten Gebieten bleibende Standards.
Anders sieht es bei ihren Versuchen aus, bestimmte Formen von militärischer Gewaltanwendung zu unterbinden oder einzuschränken. Hier sind die einschlägigen Bestimmungen der HLO notgedrungen entweder sehr vage (Artikel 23 e: Untersagt ist „der Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen“) oder so eindeutig am Kriegsbild des 19. Jahrhunderts orientiert, daß sie schon bald nur noch rührend altmodisch wirkten wie der Artikel 26: „Der Befehlshaber einer angreifenden Truppe soll vor der Beginn der Beschießung (einer befestigten Stadt o. ä.) alles, was an ihm liegt, tun, um die Behörden (des Feindes) davon zu benachrichtigen.“
<---newpage--->Luftkrieg blieb Grauzone
Gerade Versuche, entgegen der Dynamik der technologischen Entwicklung das Wirkungsfeld von Kriegsmitteln begrenzen zu wollen, blieben meist erfolglos. Dies zeigt beispielhaft das Schicksal der in Den Haag unternommenen Anläufe, die neuen Möglichkeiten des Kriegführens in der dritten Dimension zu regeln.
1899 unterzeichneten die meisten europäischen Großmächte noch eine Deklaration, die den Abwurf von Geschossen und Explosionskörpern durch Ballone oder „durch andere neue Mittel vergleichbarer Natur“ untersagte, allerdings nur eine Geltungsdauer von fünf Jahre besaß. War 1899 klar gewesen, daß der Abwurf von Bomben aus unlenkbaren Ballonen keine größere militärische Bedeutung erlangen konnte, sah die Sache wenige Jahre später, nach der Erfindung lenkbarer Luftschiffe und des Flugzeugs, ganz anders aus.
Auch wenn sich die neuen militärischen Möglichkeiten, die die rasante Entwicklung der Luftfahrttechnik bieten würde, erst vage abzeichneten, wollten die europäischen Großmächte 1907 nicht mehr auf diese Optionen verzichten und ratifizierten eine gleichlautende Deklaration trotz ihrer Befristung nicht mehr – eine Ausnahme machte allein Großbritannien, das seine insulare „splendid isolation“ nicht aus der Luft gefährdet sehen wollte.
Die einzige Konzession, zu der sich 1907 die Mächte bereit fanden, war die Ergänzung des Artikels 25 der HLO, der es untersagte, „unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude anzugreifen oder zu beschießen“, durch den Halbsatz: „mit welchen Mitteln es auch sei“, der auch eine Bombardierung aus Luftfahrzeugen heraus ausschließen sollte.
Faktisch blieb der gesamte Luftkriegskomplex jenseits dieser vagen Formulierung aber völkerrechtlich lange Zeit eine Grauzone. Die Fortschritte der Luftfahrttechnik gingen rasch darüber hinweg. Schon im Ersten Weltkrieg wurde der Artikel 25 HLO überwiegend als nichtanwendbar auf den Luftkrieg betrachtet. Im Zweiten Weltkrieg besaßen weder die HLO noch andere völkerrechtliche Dokumente eine nennenswerte Hemmwirkung, die wahllose Bombardierung von Städten auch nur im mindesten einzuschränken, mit den bekannten grauenhaften Folgen.
Diese Folgen allein einer luftkriegstechnisch fast zwangsläufig defizitären „Landkriegsordnung“ von 1899/1907 anlasten zu wollen, ginge zu weit. Aber auch der Krieg zu Land nahm wenige Jahre später Formen an, die die HLO rasch überlasteten.