Die Nürnberger Prozesse (es handelt sich um den Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher und einige Nachfolgeprozesse) seien der Versuch gewesen, „aus dem Sieg über Hitler moralische Folgerungen für die völkerrechtliche Zukunft zu ziehen“. So heißt es bei Hermann Glaser in „Deutsche Kultur 1945 – 2000“, einem Standardwerk, und so ist es heute Konsens in Deutschland. Für den britischen Historiker und Juristen F. J. P. (Frederick John Partington) Veale hätten, um diesen Effekt zu erzielen, alle Verbrechen und Grausamkeiten angeklagt werden müssen, also auch die der Sieger. Weil das nicht geschehen war, betrachtete er sie als weitereren Schritt zur Barbarei. Für Veale waren die Prozesse die Fortsetzung des „totalen Krieges“ mit juristischen Mitteln und die Fortschreibung der bedingungslosen Kapitulation. Als wenn nicht beides: die totale Kriegführung und die Forderung der „unconditional surrender“, schon genug Verheerungen angerichtet hätten. In dem 1953 verfaßten Vorwort für die amerikanische Ausgabe, das auch der deutschen vorangestellt wurde, betonte er, daß er „die Nazi-Scheußlichkeiten voll und ganz“ kenne, „sie weder verkleinern noch mit dem Mantel der Nächstenliebe zudecken“ wolle. Veale nahm seine Kritik als Jurist vor, der auf die angelsächsische Rechtstradition stolz war und sie für allen Rechtsordnungen überlegen hielt. Um so mehr empörte ihn, daß britische Juristen sich als Richter und Ankläger zur Verfügung gestellt hatten. Mit Zorn und Bitterkeit stellte er fest, daß zur selben Zeit, da die Alliierten über Deportationen richteten, sie die Deportation und Ausraubung der Ostdeutschen in Gang setzten. Er war sogar der Meinung, „daß die Faktoren der Grausamkeit, Unmenschlichkeit und Gesetzwidrigkeit ungefähr gleichmäßig zwischen den Nazis und ihren Widersachern lagen“. Die Verletzung der Regeln ging von Großbritannien aus In seiner Kritik der alliierten Kriegführung schlug Veale einen großen historischen Bogen. Die katastrophischen Erfahrungen des Dreißigjährigen Krie-ges hatten allmählich zu dem Grundsatz geführt, Feindseligkeiten auf die kämpfende Truppe zu beschränken. Trotz vieler Übertretungen war er seither im Prinzip eingehalten worden, selbst im Siebenjährigen Krieg, als Preußen einer übermächtigen Koalition gegenüberstand, für die es einfach gewesen wäre, Preußen durch Brandschatzungen und Terror gegen Zivilisten in die Knie zu zwingen. Das unterließ sie aber, denn im nächsten Krieg konnte es auf sie selber zurückschlagen. Die Gültigkeit dieser Prinzipien markierte die Abkehr vom „Primär-“ bzw. „totalen Krieg“. Das betraf aber nur Kontinentaleuropa, das Schauplatz der Kriege war. England fühlte sich durch das Meer geschützt und als insulare Macht nicht auf sie angewiesen. Eine britische Niederlage bedeutete schlimmstenfalls den Rückzug vom Festland. Die Beschießung französischer Häfen oder die Verwüstung der amerikanischen Küsten 1812/14, das Niederbrennen von Washington und Baltimore, waren Belege, daß England sich nicht an die kontinentalen Regeln hielt. Auch die durch seine übermächtige Flotte verhängte Lebensmittelblockade gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg war direkter Terror gegen die Zivilbevölkerung eines anderen Landes, begangen im Bewußtsein eigener Unverwundbarkeit. Noch während des Zweiten Weltkriegs war sein Selbstbewußtsein ungebrochen: Churchill verkündete am 14. Juli 1940 im englischen Rundfunk: „Hier, umgürtet von den Meeren und Ozeanen, wo unsere Flotte herrscht, hier erwarten wir furchtlos den drohenden Ansturm.“ Der Ansturm kam nicht. Die Flotte Deutschlands war zur Invasion zu klein, seine Luftwaffe schwächer als die britische. Veale stellt nicht die Kriegsschuldfrage, er konstatiert nur, daß der Versailler Vertrag von einer Art war, daß die „natürliche Folge“ in dem Entschluß bestand, seine Bedingungen zu verändern. Nichts anderes habe Hitler zwischen 1933 und 1938 getan. Veale betont, daß die Verletzung der Kriegsregeln von Großbritannien ausging, und zwar mit dem erstmaligen Bombenangriff auf deutsche Eisenbahnanlagen. Dieses Verfahren ging zurück auf die bereits 1936 im britischen Luftfahrtministerium ventilierte Idee, in einem künftigen Krieg ausdrücklich nichtmilitärische Ziele zu bombardieren. „Mehr im eigenen Interesse als aus menschlichen Erwägungen strebte Hitler darnach, die Bombenangriffe auf militärische Ziele zu beschränken, doch die Briten wiesen seine diesbezüglichen Schritte zurück. Hitler vergalt natürlich gleiches mit gleichem – und der überlieferte europäische Kodex zivilisierter Kriegführung flog in Fetzen. Später wurden die Briten in ihren unterschiedlosen Massenbombardierungen von der amerikanischen Luftwaffe unterstützt, die vom europäischen Kodex (…) weder viel wußte noch ihn respektierte. Das führte zu Verlusten an Mensch und Besitz, die weit über alles hinausgingen, was die Assyrer und Mongolen je gekannt hatten.“ Der totale Krieg war zur Regel geworden. Wären die Nationalsozialisten siegreich gewesen und hätten ihrerseits die Regeln von Nürnberg angewendet, wäre Churchill ebenfalls am Galgen geendet, so Veale. Doch die Briten siegten, und es schadet ihnen bis heute nicht, daß der Gerichtsvorsitzende, Lord Justice Lawrence, inzwischen Mitglied des Oberhauses, 1948 erklärte: „Wir haben uns lediglich als Nation mit anderen Nationen zusammengetan, um unsere Feinde in Deutschland vom Leben zum Tode zu befördern.“ Feldmarschall Montgomery zur selben Zeit: „Die Generale der besiegten Seite werden erst vor Gericht gestellt und dann an den Galgen gebracht.“ Als im Verlauf des Korea-Krieges die Chinesen ankündigten, gefangene amerikanische Offiziere nach Nürnberger Art vor Gericht zu stellen, war das Geschrei im Westen groß. Man beeilte sich mit der Erklärung, daß es gar keine Nürnberger Grundsätze gäbe. Veale verurteilte scharf die Prozesse gegen die deutschen Generäle und fand es „lächerlich“, OKW-Chef Keitel die Notiz vorzuwerfen, mit der er Hitlers „Kommissarbefehl“ stützte, wonach der Kampf gegen die Sowjetunion kein „ritterlicher“ sei, sondern es um „die Vernichtung einer Weltanschauung“ gehe. Die europäischen Länder hätten außerhalb des Kontinents sich stets über die eigenen Kriegsregeln hinweggesetzt. Der Krieg gegen eine Macht, die diese Regeln selber nicht anerkannte, konnte kein ritterlicher sein, nur ein „Primärkrieg in seiner abscheulichsten Form“. Partisanenkrieg als unerbittliche Konsequenz Das Pendant zu Hitlers Abweichung vom soldatischen Prinzip sah Veale in Stalins Bekanntgabe, dieser Krieg sei „nicht nur ein Krieg zwischen zwei Armeen, sondern gleichzeitig ein Krieg des gesamten sowjetischen Volkes gegen die faschistischen deutschen Truppen“ sei. Offiziellen sowjetischen Berichten zufolge wurden allein auf der Krim 18.910 deutsche Soldaten durch Partisanen getötet, 64 Transportzüge in die Luft gesprengt, 1.621 Lkw vernichtet, in eroberten Lazaretten wurden an deutschen Soldaten furchtbare Greuel verübt. Diese Verbrechen interessierten niemanden. Übrigens stand es für Veale außer Frage, daß deutsche Belastungszeugen in Nürnberg gefoltert worden waren. Der Nürnberger Prozeß hatte zwei politisch-historische Wurzeln. Die erste waren die stalinistischen Schauprozesse, deren Zweck die Vernichtung der Gegner und die propagandistisch-erzieherische Wirkung, vulgo: Einschüchterung, war. Zweitens gibt eine spezielle amerikanische Wurzel. Auch die USA akzeptierten, wie schon gesagt, den europäischen Kriegskodex nicht. Der Kampf gegen die Indianer war total gewesen und hatte zu deren weitgehender Ausrottung geführt. Präsident Lincoln hatte im Kampf gegen die Südstaaten befohlen, Städte und Plantagen niederzubrennen, um die Wirtschaft des Gegners zu schwächen und die Bevölkerung zu demoralisieren. Aber es gab noch eine jüngere Besonderheit, die die Amerikaner von den Briten unterschied. In der amerikanischen Unterwelt, die sich aus Einwanderern zusammensetzte und in den großen Städten der Ostküste ihr Unwesen trieb, hatte sich ein bestimmter Jargon herausgebildet: „Seine Wortbilder und Vergleiche waren die von Menschen, deren Leben eine einzige Flucht vor der Bestrafung ihrer Missetaten ist; dieser Jargon trug den Stempel des Gerichtssaales und des Galgens.“ Er fand durch den Tonfilm allgemeine Verbreitung und wurde auch von der Polizei übernommen, und zwar in Verbindung mit dem „Dritten Grad“, der Folter. Diese wurde damit begründet, daß die Unterdrückung von Verbrechen ein „Krieg gegen Verbrecher“ ist. Dadurch, daß Politiker und Generäle eines kriegführenden Landes sich dieses Vokabular und die Vorstellungen, die es ausdrückte, zu eigen machten, gewann die Auffassung die Oberhand, die Gegenseite sei nicht einfach ein Kriegsgegner, sondern eine Verbrecherbande, die unschädlich gemacht werden müsse. Veale wörtlich: „Es wurde ein ‚Polizistenkomplex‘ geschaffen. Ein von diesem Komplex besessener Soldat ist kein Soldat im Sinne Moltkes (…) mehr. Er wird in seinen eigenen Augen eine Art Friedenshüter und betrachtet jeden Bürger eines mit seinem eigenen Lande kriegführenden Staates (…) als einen der Verhaftung und Bestrafung entrinnenden Verbrechers. Das ist gleichbedeutend mit der Einstellung des lynchenden Pöbels.“ Wie stark Roosevelt und Stalin übereinstimmten, zeigt die bekannte Szene von Teheran im November 1943, als Stalin vorschlug, 50.000 deutsche Offiziere umstandslos zu erschießen, und Roosevelt die Zahl lächelnd auf 49.500 herunterhandelte. Veale hält die Schilderungen für glaubwürdig, wonach Churchill, obwohl er sich in seinen antideutschen Komplexen nicht übertreffen ließ, darauf geschockt reagierte, denn er war eben auch in den europäischen Rechtsvorstellungen verwurzelt und mag geahnt haben, daß am Ende des Krieges ein anderer Geist wehen würde, als er ihn sich vorstellte. Ein Verhandlungsfrieden war schlicht ausgeschlossen 1944 war in den USA versucht worden, einen Prozeß wegen „Massenaufstandes“ zu inszenieren, um den Isolationismus, Antisemitismus und Antikommunismus zu kriminellen Tatbeständen zu erklären. Dazu waren mehr als dreißig voneinander unabhängige Individuen herausgegriffen und der Verschwörung mit dem Zweck der Meuterei, des Treubruchs und der Gehorsamsverweigerung in der US-Armee angeklagt. „Die Anklage ging von der Voraussetzung aus, daß Nazismus eine bösartige Verschwörung gegen die menschlichen Freiheiten darstellte. Es ließ sich leicht beweisen, daß der Nazismus im Gegensatz zum Kommunismus stand und durch und durch antisemitisch war. Aus der Tatsache, daß die Naziregierung die verschiedenen Provokationen (gegen Deutschland – D. N.) hartnäckig ignoriert hatte, mit denen Präsident Roosevelt die Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg verwickeln wollte, ließ sich mit Fug und Recht das Argument ableiten, daß die Nazis für den Isolationismus waren. Nachdem die Vereinigten Staaten dann einmal in den Krieg eingetreten waren, konnte durchaus vorausgesetzt werden, daß die Nazis darauf hinarbeiteten, die Schlagkraft der amerikanischen Arme durch Gehorsamsverweigerung zu schwächen. Auf diese Weise konnte allen Angeklagten nachgewiesen werden, daß sie entweder Isolationisten, Antikommunisten oder Antisemiten waren.“ Damit waren sie Teil einer nazistischen Weltbewegung, die mutmaßlich die US-Armee lähmen wollten und also schuldig waren. Allerdings scheiterte das Vorhaben nach einigen Monaten an dem Gericht. Rechtsstaatlichkeit und politische Justiz sind nun mal unvereinbar. Es wurde aber exportiert. Veale macht für die exzessiven Grausamkeiten des Krieges den „Polizistenkomplex“ verantwortlich. Wenn die unterlegene Seite weiß, daß sie Unterwerfung und die Führung Folter und Tod zu erwarten hat, dann greift sie zu allen Mitteln, um die Niederlage abzuwenden oder wenigstens hinauszuzögern. In diesem Sinne läßt sich in der zynischen Behauptung Götz Alys, die Deutschen hätten „den selbstbestimmten, aktiven Untergang der Kapitulation vorgezogen“ („Hitlers Volksstaat“, 2005), sogar ein rationaler Kern identifizieren. Für Veale war nichts anderes denkbar, als daß dem juristischen ein moralischer Bankrott folgen würde, der sich in der Etablierung „einer neuen Klasse von Kollaborateuren“ in den jeweils besiegten Ländern ausdrücken würde, „deren zukünftiges Leben von ihrer Fähigkeit abhängen wird, jegliches Wiedererwachen von Patriotismus in ihrem Lande zu verhindern“. Foto: Richterbank der Nürnberger Prozesse, 1945: Unsere Feinde vom Leben zum Tode befördern
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