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„Verbrechen gegen die Menschheit“

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Herr Professor de Zayas, 1977 erschien Ihr vom internationalen Feuilleton hochgelobtes Buch „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“, das nun unter dem Titel „Die Nemesis von Potsdam“ neu aufgelegt worden ist (siehe Seite 36). Der Historiker Kristián Ungváry hat in einem Interview mit dieser Zeitung im Juli (JF 30/05) die Westalliierten mit Blick auf die Vertreibung als „gerechte Sieger“ bezeichnet. Teilen Sie diese Bewertung? de Zayas: Sieger wohl, aber nicht immer gerecht, und gewiß nicht im Sinne der Atlantik-Charta, an der ich festhalten möchte. Der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung war zweifellos völkerrechtswidrig und militärisch sinnlos. Die Vertreibung war ein Verbrechen gegen die Menschheit. Zwar haben die Anglo-Amerikaner die Vertreibung in Potsdam weder angeordnet noch genehmigt, aber sie hatten das Prinzip des „Bevölkerungstransfers“ bereits im Jahre 1942 akzeptiert. Seit 1938 warb der tschechoslowakische Präsident Edvard Benes für diese menschenverachtende Idee. Nach dem Fall Lidice holte er sich in London, Washington und Moskau die explizite Genehmigung zur Umsiedlung eines Teils der „illoyalen“ Deutschen aus Böhmen und Mähren. Nach Lidice? Dann trifft die These von der Vertreibung als Strafe für die Verbrechen der Nazis doch zu? de Zayas: Ich halte es nicht für akzeptabel, daß die Anglo-Amerikaner, die nach eigenem Anspruch gegen Hitlers verbrecherische und rassistische Politik zu Felde gezogen sind, am Ende des Krieges selbst eine menschenverachtende und rassistische Politik betreiben oder zulassen. Bitte bedenken Sie, daß das Nürnberger Tribunal die an Umfang weit geringeren durch die Nationalsozialisten durchgeführten Vertreibungen in Polen sowohl als „Kriegsverbrechen“ als auch als „Verbrechen gegen die Menscheit“ bestätigt hatten! Und ich kann dies insbesondere deshalb nicht akzeptieren, weil die Absicht zur ethnischen Säuberung aller Deutschen sogar den Tatbestand des Artikel 2 der Völkermordkonvention von 1948 erfüllt. Diese Völkermord-Dimension ist aber kaum den Westalliierten anzulasten, da sie nur einem „ordnungsgemäßen und humanen Transfer“ ihre Zustimmung gegeben hatten. de Zayas: Das ist richtig. Aber darf ich Sie zunächst einmal daran erinnern, daß man nicht so tun kann, als ob eine „ordnungsgemäßer Transfer“ kein Verbrechen gegen die Menschheit sei. Vertreibung stellt – gleichgültig, wie sie vonstatten geht – per se eine schwere Menschenrechtsverletzung dar. Es ist aber richtig, daß die Forderung der Westalliierten nach einem solchen Transfer uns zumindest vor dem Vorwurf einer Verantwortung für einen vorsätzlichen Völkermord bewahrt. Haben die Westalliierten aber nicht de facto durch ihr grundsätzliches Einverständnis zu diesem Transfer im Abschlußkommunique von Potsdam den Boden für die Völkermord-Vertreibung bereitet? de Zayas: Sicherlich beabsichtigten die Anglo-Amerikaner keinen Völkermord. Nur Henry Morgenthau hat einen völkermordähnlichen Plan verfaßt, der aber von Präsident Truman nicht in die Tat umgesetzt wurde. Wie gesagt, was den Verlust der Heimat betrifft, kann es gar keine humane Form des Transfers geben, denn er stellt an sich schon einen Akt der Barbarei dar. Warschau und Prag haben später immer wieder behauptet, sie hätten nur vollzogen, was in Potsdam beschlossen worden sei. Das stimmt vorne und hinten nicht! Denn in Potsdam – in Artikel 13 – wurde versucht, die laufenden Vertreibungen zu stoppen und eventuelle künftige Transfers allein durch den Alliierten Kontrollrat in Berlin regeln zu lassen. Weder die Polen noch die Tschechen hielten sich an das Vertreibungsmoratorium, wie General Eisenhower feststellte, was zu Protestnoten an Warschau und Prag führte. Allerdings ist die Frage, ob der Transfer geregelt oder gewalttätig stattgefunden hat, lediglich eine Frage nach dem Grad der Schuld: Nämlich, ob zur Barbarei des Heimatverlusts auch noch die Barbarei von Diebstahl, Vergewaltigung, Mord und Tod hinzukommt. Fazit: Auch die in Potsdam vereinbarte Variante eines geregelten Transfers ist nach den juristischen und moralischen Maßstäben, für die die Westalliierten zu kämpfen vorgegeben haben, ein schweres Menschrechtsverbrechen. Haben die Westalliierten wenigstens subjektiv an die Möglichkeit eines geordneten Transfers geglaubt? de Zayas: Die Experten im amerikanischen und britischen Außenministerium haben stets davor gewarnt. Sie waren sich bewußt, wie gefährlich eine solche Maßnahme war. Aber die Politiker nahmen auf diese Bedenken keine Rücksicht, weil sie politische Ziele verfolgten. Diese Leichtfertigkeit ist mit dem Argument einer „gewissen Naivität“, wie Sie es vorbringen, für meine Begriffe kaum zu entschuldigen. Und wenn man bedenkt, mit welchem Zynismus etwa Churchill in Teheran seine berühmten drei Streichhölzer aus der Tasche zog, um die Verschiebung der Sowjetunion nach Polen und Polens nach Deutschland darzustellen, dann wird augenfällig, daß es sich bei ihm objektiv betrachtet – ebenso wie bei meinem Präsidenten Roosevelt – im Grunde um einen Kriegsverbrecher gehandelt hat. Wie wird die Vertreibung heute, 60 Jahre danach, in den USA reflektiert? de Zayas: Die Vertreibung der Deutschen ist bei uns bis heute in gewisser Weise ein Tabu. Ich habe zum Beispiel in meiner Zeit als Student der Geschichte – immerhin in Harvard – nie auch nur ein Wort über die Vertreibung gehört. Erst während meines Studiums der Rechte bin ich im Zusammenhang mit Völkerrechtsfragen darauf gestoßen. Ein anderes Beispiel: In den neunziger Jahren haben die US-Zeitungen heftig gegen die „ethnischen Säuberungen“ im ehemaligen Jugoslawien angeschrieben. Aber glauben Sie nicht, daß dabei auch nur ein einziges Mal die Vertreibung der Deutschen erwähnt worden wäre. Das Problem ist, daß wir Amerikaner unsere eigenen Prinzipien kaum je auf unser eigenes Handel anwenden, sondern sie in der Regel aggressiv gegen andere richten. Insofern sind wir das genaue Gegenteil der heutigen Deutschen, die ihre Prinzipien bevorzugt gegen sich selbst anwenden, während sie bei anderen moralisch oft sehr viel milder sind. Sie waren unlängst, am 6. August, zum Festakt des Bundes der Vertriebenen (BdV) anläßlich des Gedenkens an 60 Jahre Flucht und 55 Jahre Charta der Heimatvertriebenen in Berlin zu Gast. Wie bewerten Sie die Situation in Deutschland? de Zayas: Exemplarisch ist die Reaktion auf diesen Festakt. Außer der FAZ und Ihrem Blatt hat keine deutsche Zeitung über diese Veranstaltung korrekt – oder überhaupt – berichtet! Nicht einmal die Berliner Blätter! Das gleiche habe ich beim Festakt vor zehn Jahren erlebt. Der damalige Hochkommissar für Menschenrechte der Vereinten Nationen, José Ayala-Lasso, schrieb damals in seinem Grußwort: „Ich bin der Auffassung, hätten die Staaten seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr über die Implikationen von Flucht und Vertreibung (der Deutschen) nachgedacht – die heutigen demographischen Katastrophen, die vor allem als ‚ethnische Säuberungen‘ bezeichnet werden, wären vielleicht nicht in diesem Ausmaß vorgekommen.“ Was aber haben die deutschen Medien damals daraus gemacht? Nichts! Was haben die deutschen Völkerrechtler daraus gemacht? Nichts! Was haben die deutschen Historiker daraus gemacht? Nichts! 2002 gab es eine breite Debatte anläßlich des Erscheinens der Novelle „Im Krebsgang“ über die Rolle der Deutschen als Opfer von Krieg und Vertreibung. Die Presse sprach damals fast einhellig vom Bruch eines Tabus. de Zayas: Und heute ist die Situation wieder so, als hätte es diese Debatte überhaupt nicht gegeben. Dabei hatte ich doch gewisse Hoffnungen gehegt, denn schließlich hatte „Im Krebsgang“ nicht irgendwer, sondern der Nobelpreisträger Günter Grass geschrieben! Bereits das Erscheinen von „Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“ in Deutschland hatte eine breite Debatte ausgelöst. Sie haben schließlich sogar 1981 an der großen ARD-Dokumentation unter dem Titel „Flucht und Vertreibung“ mitgewirkt. de Zayas: Das war die erste große TV-Dokumentation zu diesem Thema im deutschen Fernsehen. Auch damals schien es so, als breche das Tabu. Doch statt daß mein Buch einen nachhaltigen Bewußtseinswandel bewirkt hätte, begann man – obgleich nie eine ernstzunehmende wissenschaftliche Kritik dagegen vorgebracht wurde – es mit dem Etikett „umstritten“ zu belegen. Wie erklären Sie sich das? de Zayas: Wenn man die äußerst lobenden Rezensionen, die damals nicht nur in angelsächsischen Fachzeitschriften wie American Journal of International Law, American Historical Review, British Book News oder dem Times Educational Supplement, sondern auch in der deutschen Presse, etwa in der Zeit, der FAZ oder der Süddeutschen Zeitung erschienen sind, bedenkt, so ist das kaum zu verstehen. Ich kann es mir allein mit dem unheilvollen Wirken der Political Correctnes in Deutschland erklären. Denn wenn man die Thesen meines Buches ernstgenommen hätte, hätte man mit der Behandlung des Themas Vertreibung nicht mehr so weitermachen können wie bisher. Um diesem Dilemma zu entgehen, mußte man das Buch für politisch „umstritten“ erklären. Besteht die Chance, daß das geplante Zentrum gegen Vertreibungen (ZgV) ein erneutes Aufbrechen des Tabus bewirkt? de Zayas: Angesichts dessen, wie die Debatte um das Zentrum bisher in Deutschland geführt wird – es nämlich vor allem als eine eher abstruse, vielleicht sogar potentiell gefährliche Idee darzustellen -, bin ich eher skeptisch. Es ist erstaunlich, wie weit man damit in Deutschland kommt, ehrenwerten Persönlichkeiten wie der BdV-Chefin Erika Steinbach oder dem jüngst leider verstorbenen ZgV-Vorsitzenden Peter Glotz unterschwellig „Revisionismus“ zu unterstellen. Erika Steinbach ist einerseits Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, andererseits aber auch Abgeordnete des Deutschen Bundestags für eine Partei, die die These von der Vertreibung als Folge der deutschen Kriegsschuld teilt – wie im Mai die Position der CDU/CSU in der Debatte anläßlich des 60. Jahrestages des Kriegsendes gezeigt hat. Sehen Sie einen Konflikt? de Zayas: Die Vertreibung als logische Folge des Krieges oder moralische Folge der Verbrechen der Nationalsozialisten darzustellen, ist eine rein ideologische Konstruktion, die geschichstwissenschaftlich nicht zu halten ist. Tschechen und Polen haben bereits vor dem Krieg Pläne zur Annexion Ostdeutschlands beziehungsweise zur Vertreibung der Deutschen aus dem Sudetenland gehegt. Der Krieg hat ihnen lediglich die Möglichkeit geboten, ihre aggressiven Pläne umzusetzen. Der Konflikt, den Sie benennen, ist in der Tat ein ernstes Problem, denn natürlich muß sich Frau Steinbach – sowohl als Verbandsvertreterin wie auch als Politikerin – taktisch verhalten. Ich möchte das nicht bewerten, sondern statt dessen betonen, daß ich Frau Steinbach für eine ausgesprochen mutige und innerlich absolut ehrliche Person halte, die jede Unterstützung verdient hat. Das Zentrum gegen Vertreibungen ist eine hervorragende Initiative, die erst vor wenigen Wochen, eben am 6. August, auch der ehemalige Uno-Hochkommissar für Menschenrechte Ayala-Lasso ausdrücklich unterstützt hat. Denn auch Ayala-Lasso, der Lateinamerikaner ist, glaubt an das Recht auf die Heimat. Ich halte die Hetze aus Polen und Tschechien gegen das ZgV für unaufrichtig und menschenverachtend. 60 Jahre Flucht und Vertreibung: Wie sehen Sie die Zukunft der deutschen Vertriebenenverbände? de Zayas: Die Vertriebenenverbände stehen natürlich unter großem Druck: In starker personeller Schrumpfung begriffen, mit sehr geringer staatlicher Förderung und ohne politischen Einfluß. Dabei bedauere ich, daß die Vertriebenen sich offensichtlich nicht genug um die Integration der eigenen Jugend in die Verbände und um deren Identifikation mit dem Vertriebenenschicksal bemüht haben. Andererseits muß man feststellen, daß die deutschen Vertriebenen mehrfach furchtbar im Stich gelassen wurden: zunächst von der SPD, dann von der CDU/CSU. Hoffnung besteht für die Vertriebenen nur, wenn es der deutschen Gesellschaft gelingt, sich von der verlogenen Political Correctness und von den stupiden Täter/Opfer-Schablonen zu befreien, das Desinteresse am eigenen nationalen Schicksal zu überwinden und sich mit der deutschen Vergangenheit in Verantwortung zu versöhnen. Bild: „Mit wenig Habe, nur das nackte Leben“, Tusche auf Karton: „Die Vertreibung als logische Folge von Krieg oder NS-Verbrechen darzustellen, ist eine ideologische Konstruktion“ Alfred de Zayas : Der US-amerikanische Völkerrechtler und Historiker, Jahrgang 1947, war 22 Jahre Beamter bei den Vereinten Nationen, unter anderem als Sekretär des Uno-Menschenrechtsausschusses. Er lehrte Völkerrecht an verschiedenen Universitäten in Amerika, Kanada und Europa. Er ist Autor zahlreicher Bücher – „Die Nemesis von Potsdam. Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen“ (Herbig, 2005), „Heimatrecht ist Menschenrecht“ (Universitas, 2001), „Die Wehrmachtsuntersuchungsstelle“ (Universitas, 1979) – und der ersten Übersetzung von Rilkes „Larenopfer“ mit Kommentar (Los Angeles, 2005). Der Generalsekretär des PEN International lebt heute in Genf. Kontakt und Informationen unter www.alfreddezayas.com . weitere Interview-Partner der JF

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