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Sterben am Wegesrand

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Nachdem die Rote Armee am 2. Februar 1945 unser 200 Einwohner zählendes Dorf Eichelshagen im hinterpommerschen Kreis Pyritz völlig überraschend besetzt hatte, kam es zu schweren Übergriffen gegen Frauen, Kinder und Alte. Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Doch damit nicht genug: Der Bürgermeister Pollmann wurde hinter seiner Scheune erschossen, und eine ganze Familie, der Altbauer Ebelt mit seiner Frau, der behinderten Tochter und der jungen Schwiegertochter, deren Ehemann Soldat war, ist dann ein paar Tage später mit ihren Kleinkindern ebenfalls regelrecht hingerichtet worden. Da sich Pyritz noch wochenlang verteidigte und die Artillerie der Sowjets im und um das Dorf herum Stellung bezog, kam es zur ersten Vertreibung der Eichelshagener aus ihren Häusern nach Marienwerder, ein paar Kilometer entfernt. Im März folgte zunächst die Rückkehr in ein ausgeplündertes Dorf, wo es kein Vieh mehr in den Ställen gab und die Stuben nur noch demoliertes Mobiliar enthielten. Allmählich richteten sich die Bewohner in ihren alten Wohnungen wieder ein. Zu essen gab es kaum etwas; Hunger war an der Tagesordnung. Wir Kinder erbettelten uns manchmal etwas Eßbares von sowjetischen Soldaten. So ging die Zeit ins Land, bis die Sowjets eine halbwegs geregelte Versorgung organisierten. Die Zukunft war aber für uns völlig unklar. Als die Zeit der Feldbestellung heranrückte, wurden sogar wir Kinder, ich war zehn Jahre alt, zur Arbeit herangezogen. Wir taten es mit den zur Verfügung gestellten Pferden. Im Mai und Juni kamen die ersten Polen ins Dorf. Ein polnischer Bürgermeister wurde eingesetzt. Mitte Juni rollten die ersten Erntewagen in die Scheunen, und es schien, als würde trotz allem Normalität – ohne die kriegsgefangenen Männer – einkehren. Dann tauchten Gerüchte auf. Von Vertreibung war die Rede. Keiner glaubte so recht daran. Und wieso denn auch. Pommern lag doch mitten in Deutschland. Am 26. Juni dann der Tag, der mir unvergeßlich bleiben wird. Vormittags zogen bewaffnete polnische Milizionäre durch das Dorf und teilten jedem Haushalt mit, daß man binnen einer Stunde sich mit Handgepäck in der Ortsmitte zu versammeln habe. Was war zu tun? Meine Mutter packte einen Rucksack und eine Handtasche und für mich meinen Schultornister (wir hatten auch kaum mehr, da wir bereits am 20. April 1943 in Stettin ausgebombt worden waren). Ähnliches geschah in den anderen Häusern. Wer einen Handwagen besaß, konnte sich glücklich schätzen. Alte, Kranke und kleine Kinder bekamen ein „Privileg“: sie durften auf einen Leiterwagen steigen und wurden so in die lange Reihe der Fußgänger eingereiht. Es war ein qualvoller Marsch über Bahn, Liebenow und Heinrichsdorf, unter Bewachung, bei brütender Hitze, ohne Getränke oder Verpflegung. Am Straßenrand waren schon andere vertriebene Deutsche an Entkräftung liegen geblieben und warteten nur noch auf den Tod. In Fiddichow an der Oder dann eine letzte Demütigung durch polnische Zivilisten. Wir mußten uns auf einem Fabrikhof aufstellen und unsere Habseligkeiten vor uns aufstellen. Letzte Uhren und Ringe wechselten den „Besitzer“. Dann der Befehl zum Weitermarsch in Richtung Oder, wo eine Behelfsbrücke uns den Weg nach Vorpommern wies. Jeder war jetzt auf sich selbst gestellt und entschied sich je nach Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit für eine Richtung westwärts. Meine Mutter und ich machten uns nach einer kurzen Übernachtung in einem Erdbunker auf den Weg nach Stettin, unserer kurzzeitigen Heimatstadt vor der Ausbombung. Dort überlebte sie eine Typhuskrankheit bei Brennesselsuppe und schimmligen Brotresten. Ich hatte Glück, denn Bekannte brachten mich zu meinem Großvater nach Kölzin bei Gützkow in der Nähe von Greifswald. Dort kam später auch meine Mutter hin, und mein Vater holte uns im Oktober 1945, aus britischer Gefangenschaft entlassen und als Erntehelfer bei Hannover eingesetzt, noch immer in seiner abgerissenen Wehrmachtsuniform in den „Westen“.

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